Anwaltsgespräch vom 04.05.2005

In der Woche vor der Verkündung des Urteils im Revisionsprozess vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die am 12. Mai 2005 stattfinden wird, hatte Abdullah Öcalan zum 7. Mal in diesem Jahr Gelegenheit, eine Stunde mit seinen Rechtsbeiständen zu reden. Mit einigen zum letzten Mal – wenn es nach dem Willen der Regierungspartei AKP geht. Diese plant nämlich eine Gesetzesnovelle, die auf einen Schlag 25 Anwältinnen und Anwälte aus dem Verteidigungsteam Öcalans entfernen würde, darunter insbesondere die aktivsten. Derweil klagt Öcalan weiterhin über seine gesundheitlichen Beschwerden, die bisher nicht adäquat behandelt worden sind.
Bei dem Gespräch konkretisierte Öcalan seine Vorschläge für Reformen des Verständnisses von Staat, Nation, Staatsbürgerschaft und Demokratie. Er bezeichnete diese Vorschläge als „Rettung auch für die Türkei“. Der Staat solle veränderte Repräsentationsorgane erhalten, das Nationsverständnis müsse verschiedene kulturelle Identitäten integrieren, die Staatsbürgerschaft der Türkei solle als Oberidentität fungieren und der Schwerpunkt der Demokratie solle sich auf die lokale Ebene verschieben. Seinem häufigen Hinweis auf die in der Geschichte stets föderale Struktur des Mittleren Ostens ließ Öcalan nun einen konkreten Vorschlag für eine Reform der Staatsstruktur folgen: Die 81 Provinzen der Türkei könnten besser durch 25 Regionen ähnlich der deutschen Bundesländer ersetzt werden, von denen dann sieben überwiegend kurdisch geprägt wären.
Die aufgeregte Reaktion, die derweil ein offizieller US-Bericht auslöste, der als Ziel der PKK die „Schaffung eines demokratischen Staates“ bezeichnet, kommentierte Öcalan eher nüchtern. Die USA benutze eine mögliche Unterstützung der PKK zwar als ständige Drohung gegen die Türkei, den Iran und Syrien, verwirklichen diese aber nicht. Er erneuerte seinen Aufruf an die irakisch-kurdischen Gruppierungen, eine konstruktive Haltung zum Konzept des „demokratischen Konföderalismus“ einzunehmen und forderte sie auf, sich für die Rechte der Kurden in Diyarbakir ebenso einzusetzen, wie es die Türkei für die Turkmenen tut.
Wir dokumentieren eine zusammenfassende Übersetzung des Gesprächsprotokolls

 

Anwälte:Es finden intensive Militäroperationen statt, ungefähr im Ausmaß wie 1994 und 1998. Am Cudi und am Gabar sowie in den ländlichen Regionen von Amed und Dersim sei die gesamte zweite Armee im Kriegszustand, heißt es. Lokale Quellen berichten von intensiven Gefechten und hohen Verlusten, die in der Presse heruntergespielt werden.

Öcalan: Davon steht nichts in der Presse. Im Radio gab es vereinzelt Meldungen, aber es wird in der Presse nicht berichtet wie früher. Offenbar gibt es eine Absprache mit der Presse, die Sache nicht nach außen zu tragen.
Ich habe im Radio gehört, dass es in Hewler einen Bombenanschlag mit vielen Toten und verletzten gegeben hat.

Das ist richtig. Im Moment sind Ahmet Türk und Murat Bozlak auf Einladung Talabanis zur Eröffnungsfeier
des Parlaments von Kurdistan dort.

Es wäre gut, wenn sie dort als eine Art Vermittler zwischen uns und ihnen aufträten, sie dort bezüglich des demokratischen Konföderalismus überzeugten.

Es gibt Streitigkeiten zwischen Barsani und Talabani wegen des Parlaments. Barsani droht damit, seine fünf Minister aus der irakischen Regierung zurückzuziehen. Mahmut Osman [unabhängiger südkurdischer Politiker] hat beide aufgefordert, eine demokratische und transparente Regierung zu bilden. Das Volk brauche weniger einen Führer als ein demokratisches Kurdistan, dass als Ganzes geführt werde.

Richtig, so kann man doch nicht politisch führen. Das führt zu neuen Massakern, neuen Halabdschas. Einigt Euch, verkauft die PKK nicht. Sie nennen es Politik machen, und dann verkaufen sie die PKK. Man kann doch nicht junge Leute einfach so kaufen und verkaufen. Das Volk ist in Gefahr.
[...] Wenn sie eine demokratische Einheit zustande bringen, werden sie sowohl mit der irakischen Regierung als auch mit dem Iran besser auskommen. So führt man politisch. Ob die eigene Regierung oder die anderen Kurden, Kompromisse mit Regierung, Parteien und Gruppierungen sind notwendig. Wenn es eine demokratische Einheit gibt, lassen wir uns auch auf einen Kompromiss ein. Der Süden ist nicht ihr Privateigentum. In ihre jetzige Position sind sie auch durch unsere Anwesenheit gekommen. Eine richtige Interpretation von Einheit ist wichtig.

Die Türkei verteidigt dort die Recht von 100.000 Turkmenen. Dann sollen die Kurden im Süden doch die Rechte der Kurden von Diyarbakir verteidigen. Die Rechte, die sie dort für die Turkmenen verlangen, sollen auch für die Kurden von Diyarbakir gelten. Wenn man ihnen so entgegentritt, dann kommt es zum Frieden. Das wäre sinnvoll. Aber manche handeln nicht so, sondern kalkulieren auf eigene Rechnung. Davon rate ich ab. Niemand soll auf die PKK spekulieren, das nutzt den Kurden nicht. Ohnehin ist es mittlerweile nicht mehr nötig, auf die PKK zu spekulieren. Wer es dennoch tut, macht sich zum Spielball. Wir werden uns nicht kampflos ergeben, es würde also zum Konflikt kommen, tausende würden sterben. Das muss nicht sein, demokratischer Konföderalismus ist da allemal besser.

Ein offizieller US-Bericht hatte als Ziel der PKK die „Schaffung eines demokratischen Staates“ definiert. Einige Kommentatoren in der türkischen Presse haben diese Formulierung scharf kritisiert und als gefährlich bezeichnet.

Die USA wollen nicht, dass es Frieden mit der PKK gibt, sie wollen den Konflikt. Die USA will den Trumpf „PKK“ nicht aus der Hand geben. Über die PKK bedrohen sie die Türkei, Syrien und den Iran. Sie sagen: „Ich könnte die PKK unterstützen“. Die USA unterstützt die PKK aber nicht. Sie haben ihr Spiel mit dem Irak gespielt. Niemand sollte seiner Armee zu sehr vertrauen. Saddams Armee war die viertgrößte der Welt. So bringen sie die Staaten auf Linie, aber für uns bedeutet das keine Unterstützung. Sie spekulieren auf die PKK. Ich sage, lasst uns diese Pläne durchkreuzen. Das ist es auch, was die Türkei braucht.

Ihr Projekt einer demokratischen Republik hat der Türkei neue Möglichkeiten eröffnet und zur Lösung vieler Probleme beigetragen. Viele kulturelle Aktivitäten der Stadtverwaltungen und die Newrozfeiern haben gezeigt, dass man vor den Kurden keine Angst zu haben braucht.

Deswegen habe ich von der „demokratischen Republik“ gesprochen. Eigentlich führen nicht die Regierenden die Türkei. Seit sechs Jahren läuft die Türkei durch meine Projekte. Sie sagen: „Bleib wo du bist, verfaule dort, wir wollen deine Früchte ernten.“ Mittlerweile weiß jeder, dass mich die USA hierher gebracht haben. Sie sagen, die PKK soll weiter existieren. Damit spekulieren sie dann. Sie warten auf den kritischen Augenblick. Dann werden sie die Schlinge zuziehen. Die Türkei soll ihrer Armee nicht allzu sehr vertrauen. Die USA wissen sehr genau, was sie aus dieser Armee machen werden. Sie unterstützen die PKK nicht, sie bringen sie wie eine Waffen in Anschlag. Ich weiß nicht, was die in der Türkei machen. Sehen sie das nicht? Sind sie derart abhängig von den USA? Dies nicht zu sehen heißt, auf ein zweites Sèvres zu warten. Demnächst werden sie den Völkermord and den Armeniern offiziell akzeptieren. Was wird dann sein? Sie werden die politische Elite der Türkei zwingen, das zu akzeptieren, oder die Schlinge enger ziehen. Diese Elite wird das Massaker akzeptieren müssen. [...]

Die Türkei redet mit mir darüber nicht. Dabei habe ich mehrere Briefe geschrieben. Sie wollen uns in die Auseinandersetzung treiben, dann werden sie zum Massaker blasen. Dies ist die Richtung, in die sich die Türkei momentan bewegt. Wer das nicht richtig versteht, wird selbst zum Werkzeug in diesem Spiel.
Viele behaupten, ich sei Kemalist geworden. Mustafa Kemal war intelligent und leidenschaftlich auf seine Ehre bedacht. Er wäre auf so ein Spiel nicht hereingefallen. Sie sind Pseudokemalisten. Bei Mustafa Kemal gibt es eine Linie von Demokratie, Einheit, Geschwisterlichkeit. Er wäre mit den Kurden gut ausgekommen. Dann wurden sie zum Aufstand aufgestachelt, und danach ging es bergab.

Es ist doch klar, wo es jetzt langgeht. Die Einheit der Türkei lässt sich nicht mit Waffen verteidigen. Wenn so etwas möglich wäre, dann hätte Saddam Erfolg gehabt. Auch durch die Wirtschaft kann man sie nicht verteidigen. Die Wirtschaft der Türkei ist ohnehin von der Dette publique (1) abhängig. Das würde sie nicht schaffen. Die Türkei könnte ihre Überlegenheit in drei Bereichen ausspielen. Mit Waffen geht es nicht, mit Ökonomie geht es auch nicht, bleibt als dritte Möglichkeit die Linie der demokratischen Einheit.
Was sie im Moment beschreiten, ist der Weg des Massakers. Dieser Krieg ist überflüssig. Wir wollen mehr als alle anderen die demokratische Ganzheit der Türkei. Wir würden uns nicht einmal abspalten, wenn man uns dazu zwingen wollte. Aber diese nationalstaatlich-nationalistische Haltung führt zu einem zweiten Sèvres(2). Wenn ein Nationalsstaatsverständnist à la „Einheit und Fortschritt “ (3) wegen der armenischen Frage die Türkei nach Sèvres bringt, dann zeigt das, dass diese Politik nichts mit Türkentum zu tun hat. Die meisten von ihnen sind ohnehin keine ethnischen Türken sondern dönme (4). Mit dieser Herangehensweise haben sie einen Staat in den Abgrund getrieben, der einmal vier Millionen Quadratkilometer umfasst hat.

Auch heute gibt es massenhaft Propaganda im Namen des Türkentums. [...] Was ist das Resultat? Wir werden in Anatolien aufeinander losgehen. Mustafa Kemal hat das ganz anders gemacht. Er hat niemanden konsultiert. Er ist zuerst nach Erzurum gekommen, dann hat er den Notablen in Diyarbakir einen Brief geschickt, in dem er sie aufforderte, für die innere Einheit zu sorgen. Die Türkei hat allen möglichen Ländern alle möglichen Zugeständnisse gemacht, damit sie gegen die PKK vorgehen. Ist das Kemalismus? Mustafa Kemal war ein ehrenwerter, intelligenter Staatsmann. Er war sehr wütend über die Intrigen der fremden Mächte. Das ist alles bekannt.

Hinter dieser Art von Politik stecken bestimmte simple Interessen. Sie machen dass, um ihre Politik über den Tag zu retten. Was wollen sie denn tun? Wollen sie die Kurden vernichten? Dieses Volk ist zu Millionen aufgestanden. Wir sagen, wir werden uns nicht abspalten. Wollen sie uns mit Gewalt zur Abspaltung zwingen? Aber auf unsere Würde und unsere Freiheit werden wir auch nicht verzichten. Daher rufe ich die Kurden auf:
„Macht euch schnell an die Arbeit. Betreibt eine große Politik, werdet zu demokratischen Politikern. Wenn ihr das nicht zustande bringt, wir man euch verachten. Das Volk wird euch nicht akzeptieren, bald wird man euch nicht einmal mehr grüßen. Wer vor dem Volk seine Ehre verliert ist nichts wert, selbst wenn er alles Geld der Welt besäße. Ich schlage eine Politik der Einheit vor. Es kann verschiedene Ideen, Richtungen, Gruppierungen geben. Aber Ihr solltet für alle Kurden Politik machen. Das verhindern weder Gesetze noch die Verfassung.“

Wenn man schon von Kemalismus redet, dies entspricht der Philosophie Mustafa Kemals. Wir haben einen Aufstand gemacht. Während des Aufstandes haben wir auch einige Fehler gemacht. Wir haben einen Aufstand gemacht, aber wir sind im Recht. Man muss verstehen, dass ein Volk, dessen Sprache und sogar dessen Name verboten ist, einen Aufstand macht. Jeder soll seine politischen Aufgaben erfüllen.
Ich bin nicht länger bereit, mir die ganzen persönlichen Probleme von einigen anzuhören. Ich verstehe unter Politik folgendes: Seid offen Dialog, verteidigt leidenschaftlich Eure Würde, vertretet demokratische Einheit und einen Geist der Solidarität. Verliert keine Zeit, sonst werdet ihr es bereuen. Es wird Fehler und Mängel geben, aber hört nicht auf, Politik zu machen. Ich mache immer noch begeistert Politik.

Es ist wichtig, nie den Esprit der demokratischen Einheit aus den Augen zu verlieren. In der Vergangenheit gab es ihn. Alparslan, Selim III. und Mustafa Kemal hatten ihn. Lasst uns die vierten sein. Es gibt Unklares, aber natürlich müssen die Ideen im Streit liegen, dann gibt es Fortschritte. Ihr müsst Euch gegenseitig kritisieren, aber nicht gegenseitig eure Ehre angreifen. Das ist meine Philosophie.

Vom 7.-18. April haben die Frauen ihren Parteitag durchgeführt. Es nahmen 180 Delegierte und 35 Frauen sowie 15 Männer als Zuhörer teil. Es heißt, es hätten intensive Diskussionen stattgefunden, der Parteitag sei produktiv und reif gewesen. Sie haben einen Gründungsvertrag von „Koma Jina Bilind“ erstellt.

War das ein Parteitag oder die Gründung von “Koma Jina Bilind”?

Beides. KJB ruht auf 5 Säulen. Es sind dies die Frauen aus PJAK, PKK, der Jugendbewegung, den Freien Fraueneinheiten und dem Kongra-Gel. Es wird eine 19-köpfige Leitung mit 5 Sprecherinnen gewählt werden, die die Mitgliederschaft vertreten wird. Die Versammlung stand unter dem Motto „Die Einheit der Frau auf der Linie der Führung ist die Garantie für die Freiheit“, sie lassen Ihnen ihre Grüße ausrichten.

Die Frauenfrage ist ein Problem, das allen anderen Problemen zugrunde liegt. Wenn ihre Organisation und ihre Praxis sich entwickeln, werden sich ganz allgemein Frieden und Organisierung entwickeln. In diesem Sinne wünsche ich ihnen viel Erfolg.

Es gibt Diskussionen, wie ein Frauenkonföderalismus entwickelt werden kann.

Das ist nicht nötig. Innerhalb der allgemeinen Struktur geht das, aber sie sollen ihre spezifischen Strukturen bewahren. Ohnehin sind sie bei den Massen verankert. Ich glaube an die Frau. Das meine ich sehr ernst. Ich habe meine Ansichten dazu ausführlich dargelegt, meine Ansichten sind innovativ. Ich habe bei mir selbst mit allen Überresten der patriarchalen Ideologie aufgeräumt, sie zerschlagen. Wenn sie das begreifen, werde ich ihnen nur applaudieren, gewinnen werden sie dann selbst. Ich kümmere mich nicht um herausgeputzte [?] Frauen. Ich sehe die Frauen nicht als weibliches Objekt, als Sexualobjekt, als Objekt zum Kinderkriegen. Das wird seit hunderten von Jahren so gemacht, seit Platon ist das in der Theorie so. Wir trauen uns, zur wirklichen Persönlichkeit der Frau in Beziehung zu treten [?]. Die Gesellschaft kennen zu lernen, mit dem Mann abzurechnen, das Leben kennen zu lernen, so kenne ich die Persönlichkeit der Frau.

Osman Öcalan ist mittlerweile Vater eines Sohnes und hat ein Interview gegeben, in dem er sich für eine Wiederholung des Prozesses gegen Sie ausspricht, da dies ein notwendiger Schritt hin zu einer Demokratisierung der Türkei sei.

Ich sage zu meinen Genossinnen und Genossen folgendes: Es geht nicht darum, Kinder zu bekommen, sondern tapfere Kinder des Volkes zu sein und für die Freiheit des Volkes zu Müttern und Vätern des Volkes zu werden. Zu Osman und seiner Gruppe sage ich: Wenn sie keinen Weg finden, damit man ihnen verzeiht, wird das kurdische Volk sie nicht akzeptieren. Wenn ich freikomme, werde ich mich darum kümmern. Das heißt nicht, eine bewaffnete Gruppe loszuschicken und jemanden zu erschießen. Wenn es ihnen nicht gelingt, sich zu entschuldigen, werden sie es schwer haben. Sie werden nichts zustande bringen.

Immer noch gibt es Schwierigkeiten mit dem Begriff des „demokratischen Föderalismus“. Türkische Intellektuelle bezeichnen es als „kurdischen Turanismus“, kurdische Intellektuelle hingegen behaupten, dieser Begriff werde ins Spiel gebracht, um Fortschritte in Südkurdistan zu behindern. In einigen Diskussionen wird auch von „Pankurdismus“ geredet.

Beiden Gruppen passt der demokratische Konföderalismus nicht ins Konzept, vielleicht liegt es daran. In ihren Büchern können sie meine Definition des demokratischen Konföderalismus jedenfalls nicht finden.
In Robert Coopers (5)„The Breaking of Nations“, das ich gerade lese, ist einiges davon enthalten. Auch bei Murray Bookchin und Immanuel Wallerstein wird darüber diskutiert, aber in Büchern findet man das nicht. Auf der einen Seite steht das etatistische Imperium. Gleichzeitig entwickelt sich die Sklaverei. Bei Völkern und Gemeinschaften, die dazwischen stehen, gibt es eine Struktur, die unseren Stammesstrukturen ähnelt. Das ist Konföderalismus.
Ich sage dies, weil sich bürgerliches Revolutionärstum und feudale Monarchie die Hand reichen, um diese gesellschaftliche Struktur zu zerschlagen. Heute gibt es eine Zivilgesellschaft, Vereine und Verbände, aber das reicht dem Volk nicht.

Marx gelang es in seinem Manifest nicht, dem Volk eine politische Linie zu geben. Ähnliches gilt für Lenin. Beide gingen dem Staat auf den Leim. Die Anarchisten, Bookchin, Wallerstein, ähnliche Denker diskutieren über den Staat, aber es gelingt ihnen nicht, Klartext zu reden. Bei ihnen läuft es eigentlich auf folgendes hinaus: Konföderalismus ist die Daseinsweise der Demokratie. Darin ist für jeden und jede Platz. Konföderalismus ist die alles überspannende Organisation.
Ich sage nicht, lasst uns den Staat zerschlagen und den Konföderalismus errichten. Wer sagt, ich will den Staat zerschlagen und dieses oder jenes an seine Stelle setzen, hat schon verloren. Lenin hat an diesem Punkt verloren. Es gibt eine linke Version des Nationalstaates und eine nationalistische. Die eine führt in den Linksnationalismus, die andere in den Rechtsnationalismus. Beide haben den gleichen Ursprung und bewirken nichts gutes. Es kommt nicht darauf an, den Staat zu zerschlagen. Wenn der Staat mit seinen Völkern und Gemeinschaften Kompromisse eingehen will, so soll er das tun. Das bedeutet aber nicht, dass sie Staaten Gründen. Entscheidend für eine Lösung ist die lokale Ebene. Ihr könnt ein Modell dafür entwerfen, wie man auf lokaler Ebenen mit den Stadtverwaltungen Eure Probleme lösen kann. Die lokale Ebene löst ihre Probleme aus eigener Kraft.

Auf der höheren Ebene bedeutet Konföderalismus zu verhindern, dass das Lokale vom Zentralen erdrückt wird. Saddam hatte einen Staat. Was ist passiert? Was lernen wir von diesem Staat? Die Türkei hat einen Staat, er steckt bis zum Hals in Schulden. Es gibt einen Staat aber...
Es geht auch um die Befreiung der Türkei. Dafür und für die „Bewegung für eine demokratische Gesellschaft“ schlage ich vier große Reformen vor, die anliegen. Ich schlage eine Reform der Republik vor. In Europa findet das statt. Bei der EU geht es eigentlich darum, aber sie machen es etwas anders. Mit Frankreich beispielsweise gibt es eine Krise. In Frankreich gibt es eine nationalstaatliche Republik. Wie kann man aus dieser Krise herauskommen? Die EU sagt, komm auf uns zu. Der rechte und der linke Nationalismus sagen: Igel dich ein. Daher die Krise.
Erstens: Reform des Staates, der Republik. Die Republik braucht eine Reform. Ich sage das, damit man darüber diskutiert. Ich schlage zwei Organe vor, die an die Stelle der „Großen Nationalversammlung der Türkei“ [Parlament der Türkei] treten könnten. So etwas gab es früher schon einmal, ich schlage einen Senat der Republik vor. An die Stelle des Nationalen Sicherheitsrats könnte ein „Rat für Sicherheit und Verteidigung“ treten. Man sollte einen Verfassungsrat einrichten, dazu so etwas wie „Halbminister“ und eine Regierung, die vom Präsidium gewählt wird. Wo ist da das Volk? Dies ist eben der Kongress, ein Türkeispezifisches Repräsentantenhaus.

Es gibt 81 Provinzen in der Türkei. Ich denke an eine Struktur mit 25 Gebieten, 7 Bundesländer wären überwiegend kurdisch, 18 überwiegend türkisch. Die anderen Identitäten dürften dabei nicht negiert werden. Diese bekämen Parlamente für die lokalen Regierungen.
Das ähnelt vielleicht ein wenig den griechischen Stadtstaaten, mehr aber dem System der Bundesländer in Deutschland. 81 Provinzen sind sinnlos. Sie haben keine sinnvolle kulturelle oder soziale Entsprechung.
Auch in wirtschaftlicher Hinsicht sind sie eine Last. Es kann einen Kongress geben, der die Regionen repräsentiert.

Zweitens, eine Reform der Nation. Die Nation sollte sich selbst definieren. Es ist falsch, jeden, der der Türkei über die Staatsangehörigkeit verbunden ist, als Türken zu bezeichnen. Das gibt es auch bei Mustafa Kemal nicht. Er versucht nicht, das Volk zu türkisieren. Sein bekannter Ausspruch „Glücklich der sagen kann: Ich bin ein Türke“ meint, dass sich auf die Turkmenen und Yörük die Möglichkeit bekommen sollen, ihr Türkentum auszudrücken. Er meint damit weder die Kurden noch die Araber. Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn sich jemand aus freien Stücken als Türke fühlt. Ich schlage eine Reform der Nation vor, die auf kulturellen Identitäten beruht, die kulturelle Identitäten anerkennt.

Drittens. Staatsangehörigkeit [vatandaslik] ist die Zugehörigkeit zur einer Nation, die die kulturellen Identitäten anerkennt. Anstatt jeden gezwungenermaßen zum Türken zu machen, sollte man „Türkeier“ [Türkiyeli] oder „Bürger der Nation Türkei“ [Türkiye Ulusu Vatandasi] sein. In den USA ist das so. Einiges davon findet sich auch bei Professor Baskin Oran.

Ich möchte es so ausdrücken: Ich gehöre der kurdischen Nation an und bin Bürger der Nation Türkei. Das ist eine passende Überschrift. Die Zugehörigkeit zur Türkei ist also eine Art „Dachidentität“ [üst kimlik].

Viertens, demokratische Reform. Über die Regionen habe ich schon gesprochen. Sie sollen in ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht sinnvolle Einheiten bilden. Das wäre eine Art Konföderation. Oben gibt es den Staat. Zwischen Volk und Staat vermitteln Repräsentanten, die lokal angebunden sind. Es sollte ein Parlament geben, dass von diesen Repräsentanten gewählt wird. Das ist meine Skizze für einen „demokratischen Konföderalismus Türkei“. Die Identität der „Nation Türkei“ ist eine „Dachidentität“. Nur auf diese Weise kann eine nationale Identität der Türkei geschaffen werden, die uns alle einschließt bzw. für uns alle verbindlich ist.

In Robert Coopers „The Breaking of Nations“ ist einiges davon ausgeführt. Die Türkei wird schnell an diesen Punkt kommen. Was für ein Staat? Vielleicht wird sogar „der Staat ‚Republik Türkei’“ durch „Demokratische Republik Türkei“ ersetzt. Mustafa Kemal benutzte niemals den begriff „türkischer Staat“. Denjenigen, die seinerzeit als Namen „Türkische Republik“ [Türk Cumhuriyeti] vorschlugen, entgegnete er: „Nein! Werden sie 'Republik Türkei’ [Türkiye Cumhuriyeti] nennen.“ Wir sagen heute „Große Nationalversammlung der Türkei “ (6)und „Republik Türkei“, also können wir auch von der „Nation Türkei“ sprechen. Mustafa Kemal hat sich für „Republik Türkei“ entschieden. Später, in den 1930ern haben Männer wie Mahmut Esat Bozkurt das Türkische viel mehr in den Vordergrund gestellt.
Es kann arabischen, türkischen, kurdischen Konföderalismus geben. Das sollte man diskutieren. Ich hatte bereits die Begriffe „Demokratische Republik“ und „Freie Bürger“ in die Diskussion gebracht. Ich rege an, dass diese in der Presse breit diskutiert werden. Diese Diskussionen können durchaus ein oder zwei Jahre dauern. Aber sie sollen vertieft werden.

Diese vier Reformen führen zur Befreiung der Türkei. Es gibt keinen anderen Weg. Es gibt zwei Alternativen: Entweder ein zweites Sèvres, das führt ins Massaker. Oder dieser Weg, das ist der richtige.

Es gibt Beschwerden, die besagen, die Presse in Europa und der Türkei gebe Intellektuellen zu wenig die Möglichkeit, sich an diesen Diskussionen zu beteiligen.

Ich habe diese Linie klar skizziert. Ich schlage vor, in der gesamten Presse bis hin zur Lokalpresse in Diyarbakir die Linie des demokratischen Konföderalismus intensiv zu diskutieren. Das führt zu einer Lösung. Sonst kommt es zur Stagnation wie in Tschetschenien und Palästina oder zu Massakern wie im Irak. Europa hat 300 Jahre Krieg geführt, bis sie an diesen Punkt gekommen sind. Ich warne die Türkei. Mit Militäroperationen geht das nicht. Europa hat nach 300 Jahren der Kriege zu einer Einheit gefunden. Lasst uns in der Türkei das gleiche tun. Ich warne die Kurden. Die Intellektuellen und Politiker sitzen herum. Wer sich als Politiker bezeichnet, soll seine Gedanken einbringen. Hier sind meine politischen Ansichten. Ich bewege mich hier auf dieser Linie. Das ist meine Aufgabe. Für mich ist sie heilig. Für die Freiheit sage ich das wieder und wieder. Damit gibt es in Botan eine Lösung und in Diyarbakir. Es bringt den Kurden die Befreiung und den Türken. Sonst steigen Euch die USA aufs Dach und zwingen alle in die Knie. Ich widme dieses Projekt den Feiern zum ersten Mai und dem Andenken von Deniz Gezmis, Mahir Cayan und unseren Gefallenen. Dies ist es, was sie erträumt haben.
Man beachte, ich mache hier den Staat nicht schlecht. Der Staat profitiert eigentlich von meinen Überlegungen. Allerdings filtert er sich das heraus, was er brauchen kann. Das akzeptiere ich nicht. Es muss sich ein Dialog entwickeln. Ich sage dies auch für die „Bewegung für eine demokratische Gesellschaft“. Ich rufe sie auf, Programm und Statut im Rahmen der hier vorgeschlagenen Reformen zu entwerfen. In der Bewegung sollte es eine Diskussion im Rahmen der bestehenden Gesetze geben. Sie können ihren Kongress machen, sie können sich bald in eine Partei umwandeln und zur „Partei der demokratischen Gesellschaft“ werden. Es kann Bündnisse mit Leuten wie Celal Dogan geben. Ich sage nicht, macht das alles sofort, sie haben Zeit. Aber es besteht ein dringendes Bedürfnis nach Politik für die Kurden.

Anmerkungen:

(1) Die dette publique (türk: Duyun-u Umumiye) übernahm in den letzten Jahrzehnten des Osmanischen Reiches nach dem Staatsbankrott die Finanzverwaltung. Auf diesem Wege wurde der „kranke Mann am Bosporus“ praktisch von den westlichen Großmächten kontrolliert. Anspielung auf den IWF.

(2) Der Vertrag von Sèvres sah nach der militärischen Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg die Reduzierung des Reiches auf ein anatolisches Kernland, kleiner als die heutige Türkei, vor. Außerdem war die Schaffung von Kurdistan und Armenien als souveränen Staaten vorgesehen. Sèvres ist heute noch der Alptraum nationalistischer Türken.

(3) Türkisch-nationalistische Regierungspartei in der Endphase des Osmanischen Reiches

(4) Islamkonvertiten

(5) Britischer Diplomat und Stratege, Mitarbeiter von Javier Solana

(6) Im Deutschen oft falsch: Große Türkische Nationalversammlung

Übersetzung aus dem Türkischen