Auszug aus dem Gesprächsprotokoll mit Abdullah Öcalan
„Mir geht es nur darum zu verhindern, dass Kurdistan in ein Meer von Blut getaucht wird.“

Am 19. Januar 2005 hatte der vorerst letzte Besuch der AnwältInnen bei Abdullah Öcalan stattgefunden. Jeden Mittwochmorgen machten sich die AnwältInnen des Asrin Hukuk Bürosu und Angehörige von Abdullah Öcalan auf den Weg zur Gendarmeriestation in Gemlik, von wo die Fähre nach Imrali übersetzt. Die Besuche wurden wegen angeblich schlechten Wetters abgewiesen. Auch die Zeitungen und Bücher für Öcalan wurden zurückgegeben.
Eine Delegation des türkischen Menschenrechtsvereins IHD, die auf Antrag der AnwältInnen die gesundheitliche Situation Öcalans und die Bedingungen im Gefängnis Imrali untersuchen wollten, wurden von den Verantwortlichen der Gendarmerie daran gehindert. Das Justizministerium erklärte, Öcalan habe keine gesundheitlichen Probleme.
Über das neue Boot, das das Justizministerium für die Überfahrt bereitgestellt haben soll, ist immer noch keine Information zu bekommen.

Wir veröffentlichen hier eine Zusammenfassung des Gesprächsprotokokolls vom 19. Januar 2005.

Beim vorerst letzten Besuch der AnwältInnen Öcalans, der mittlerweile mehr als drei Wochen zurückliegt, richtete der Kurdenführer angesichts der sich zuspitzenden Lage eindringliche Appelle an das Volk der Türkei und den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, ein Blutbad in Kurdistan und der Türkei zu verhindern. Öcalan zitierte weiter aus dem Brief, den er Anfang des Jahres an Ministerpräsident Erdogan geschrieben hatte. Er warnte erneut vor dem kurdischen Nationalismus und stellte dem sein Konzept eines demokratischen Konföderalismus entgegen.
Der Kurdenführer bezeichnete es als einen Fehler, die PKK bzw. den Kongra-Gel als geschwächt anzusehen und ihre Vernichtung zur Grundlage der weiteren Kurdenpolitik zu machen. Insbesondere warnte er vor den Gefahren des Nationalismus von allen Seiten und den Bestrebungen, einen kurdischen Staat zu gründen. Das sei kontraproduktiv und werde die Konflikte noch weiter anheizen.
Öcalan, der die Nationalstaaten und insbesondere die künstlich geschaffenen Nationalstaaten des Mittleren Ostens als nicht zeitgemäß ansieht, skizziert in seinem Brief die geschichtliche Entwicklung des Nationalismus in der Region. Während es im Osmanischen Reich ein friedliches Zusammenleben mit den Armeniern gegeben habe, habe die Einmischung der USA, Englands und Frankreichs letztlich den Völkern, für die sie sich einzusetzen vorgaben, nichts gebracht. ArmenierInnen, AssyrerInnen und anatolische GriechInnen seien vertrieben oder Opfer des Genozids geworden. Der zionistische Nationalismus habe zur Gründung von Israel geführt, dagegen kämpft der arabische Nationalismus für einen palästinensischen Staat. Türkischer Nationalismus habe zur totalen Verleugnung der Kurden geführt, wogegen die PKK sich gewehrt habe. Durch demokratischen Konföderalismus hingegen könnten all diese nationalistischen Konflikte entschärft werden.
Die bevorstehende Gründung eines kurdischen Staates im Nordirak sei wieder das Werk des Westens. Auch die Türkei habe die südkurdischen Gruppen lange unterstützt und tue dies noch, sofern sie gegen die PKK kämpfen. Insofern entstehe der Staat als Gegenleistung für die Vernichtung der PKK, als Preis für Öcalans Kopf. Jedoch solle sich die Türkei nicht täuschen: Sie sei von den USA hochgerüstet worden, und die USA könnten dasselbe auch mit den KurdInnen tun.
Die Geschichte des kurdischen Nationalismus beginne im Jahre 1806 mit Abdurrahman Pascha. Zweiter Schritt sei die Organisation als KDP seit 1945, als dritter Schritt stehe die Staatsgründung bevor. Dieser Nationalismus werde nicht halt machen, sondern immer mehr fordern. Da die kurdische Bevölkerung mittlerweile an die 50 Millionen zählt, bestehe hier ein Konfliktpotential, welches das israelisch-palästinensische noch übersteige.
Auch ihm selbst sei mehrfach angeboten worden, sich auf die Seite der Nationalisten zu schlagen. Darauf sei er aber trotz aller Drohungen und Attentatsversuche gegen seine Person nicht eingegangen. Er selbst habe immer Demokratie und Sozialismus statt Feudalismus und Nationalismus vertreten und tue das auch weiterhin.
„Mir geht es nur darum zu verhindern, dass Kurdistan in ein Meer von Blut getaucht wird“, betonte er im Hinblick auf die drohende Kriegsgefahr. Als Alternative zum Nationalismus wies er nochmals auf sein Konzept des demokratischen Konföderalismus hin. Mit diesem Begriff bezeichnet Öcalan eine nichtstaatliche Organisierung von Gruppen wie Nationen, Minderheiten, Religionsgemeinschaften und Geschlechtern. So könnten sich Nationen und Kulturen organisieren, ohne einen Staat zu gründen. Grundlage dafür sei die demokratische Kommunalorganisation angefangen bei den Dörfern, die Gesamtheit aller dieser Organisationsformen stelle dann eine nichtstaatliche, demokratische Konföderation dar. Die KurdInnen sollten die staatlichen Grenzen nicht als Trennungslinien begreifen, sondern als Brücken und durch ihre Organisation das Zusammenwachsen fördern.
Ein solcher Organisationsstil könne auch für die 22 arabischen Staaten gelten, sogar für eine Konföderation von Israel und Palästina oder die Türkei und die Turkrepubliken Zentralasiens, die sich nicht zu einem Nationalstaat, wohl aber in demokratisch-konföderaler Weise zusammenschließen könnten. In diesem Zusammenhang forderte Öcalan auch den Iran und Syrien zum Dialog auf: „Schafft einen Dialog, bei dem es um einen demokratischen Kompromiss für die Forderung der KurdInnen nach Freiheit geht.“
Ein kurdischer (Bundes-)Staat, der auf derartigen demokratischen Prinzipien beruhe, werde ein gefragter Partner statt eines Feindbildes werden. So könne die drohende Gefahr eines Blutbades, das den Israel-Palästina-Konflikt noch in den Schatten stelle, verhindert werden.
Auf die Vernichtung der PKK und zu diesem Zwecke die Förderung des kurdischen Nationalismus zu setzen, sei auch für die Türkei fatal: „Wer sagt, die PKK ist schwach, Kongra-Gel ist am Ende, der irrt sich. So schnell sind sie nicht am Ende. Und nach der PKK käme die kurdische Hizbullah, der kurdische Nationalismus würde die Oberhand bekommen, kurdischer Fundamentalismus und die Nakschibendi-Bruderschaft würden sich ausbreiten. Diese beiden Strömungen zusammengenommen würden direkt in die Katastrophe führen. Die Türken haben Feinde im Ausland. Diese würden alle den kurdischen Nationalismus stützen und sind zu allem bereit. Dann werden die Völker Anatoliens leiden.“
An die Bevölkerung der Türkei richtete er den Aufruf, Druck auf die eigene Regierung auszuüben, damit es zu einer politischen Lösung kommen kann: „Ich rufe Linke und Rechte, das ganze Volk der Türkei auf: Setzt eure Regierung unter Druck. Mit euch wird ein böses Spiel gespielt. Gebt mir nicht die Schuld. Unsere Muttersprache ist verboten, wir haben nicht einmal eine einzige Schule. Greift mich nicht an, das ist, als würdet ihr euch selbst angreifen. Ich sage, lasst uns diese Pläne [der Regierung] vereiteln. Dann kann sich ein würdiger Frieden entwickeln. Wenn die Forderungen der KurdInnen nach Freiheit, nach Demokratie akzeptiert werden, hole ich die Guerilla innerhalb von zwei Monaten von den Bergen herunter.“
Die Guerilla hingegen forderte er auf, den Widerstand zu organisieren, falls es Vernichtungsangriffe gegen sie geben sollte: „Wenn diese Vernichtungspolitik weitergeht, wenn sie versuchen, die kurdischen Kollaborateure zu benutzen, wird euch nichts übrig bleiben, als euch massiv zu verteidigen. Sie werden dies noch zwei Monate weiterführen. Wenn sie auch diplomatische und politische Methoden einsetzen, um euch in die Enge zu treiben, müsst ihr euch verteidigen, eure Würde und Freiheit und die eures Volkes verteidigen. Das verstehen sie nicht, sie wollen euch immer noch vernichten. Ich sage dies, weil ich für die Geschwisterlichkeit mit dem arabischen, dem türkischen und dem iranischen Volk eintrete. Iran, Syrien und der Irak müssen in einen demokratischen Dialog eintreten.“
Für den Fall eines Angriffes auf die Guerilla, die mehrfach ihre Bereitschaft zu einem bilateralen Waffenstillstand bekundet hat, rief Öcalan die kurdische Jugend auf, ebenfalls in die Berge zu gehen und sich und ihre Würde dort zu verteidigen.
Beim kurzen Besuch seiner Schwester Fatma wies Abdullah Öcalan auf seine weiter bestehenden Gesundheitsprobleme, insbesondere die nächtlichen Atemprobleme hin. Er wiederholte seine Forderung nach unabhängigen medizinischen Untersuchungen, die ihm bisher verweigert werden.

Übersetzung aus dem Türkischen