Informationsstelle Kurdistan (ISKU), "Es ist eine Sache der gesamten Gesellschaft..." Das Gefängnissystem in der Türkei und Nordwest-Kurdistan und der Widerstand gegen die Einführung der Isolationszellengefängnisse, August 2000, 120 Seiten, 12.- DM.
Zu beziehen über ISKU, Hobrechtstr. 14, 12 047 Berlin, Tel./Fax: 030/ 61305622 Email: isku@mail.nadir.org. oder Rote Hilfe Literaturvertrieb

Stammheim gleich Europa?

Isolationshaft als Folge der 'Europäisierung' türkischer Knäste


Das konsequente 'Nein!' zur Einführung der Iso-Haft in türkischen Gefängnissen ist inzwischen gesellschaftlicher Konsens in der Türkei und in Nordwest-Kurdistan. Nicht nur die politischen Gefangenen und ihre Angehörigen wehren sich dagegen: Berufsverbände, wie die Anwalts- und die Ärztekammer und der Ingenieursverband richteten inzwischen Anti-Isolationshaft-Kommissionen ein. Ebenso Menschenrechtsorganisationen. Gemeinsam forschen sie zu den medizinischen und psychologischen Folgen von Isolation. Dabei greifen sie unter anderem auf Erkenntnisse aus der BRD und den USA aus den 70er und 80er Jahren zurück. Politische Parteien, Gewerkschaften, Prominente, sie alle kämpfen gemeinsam gegen die Isohaft. Keine Zeitung, die nicht ständig über Widerstandsaktionen berichtet, keine Fernsehsender, der ohne Diskussionsrunden zum Thema 'Iso-Haft' auskommt. Der Kampf gegen die Isoknäste ist in der Türkei inzwischen eine Sache der ganzen Gesellschaft.
Demzufolge heißt der Titel des kürzlich im Eigenverlag erschienen Buches der Informationsstelle Kurdistan (ISKU) auch: "Es ist eine Sache der ganzen Gesellschaft...",. Auf 120 Seiten bieten verschiedene Autorinnen und Autoren eine breite Fülle an Materialien zur der geplanten Einführung der Isolationshaft in der Türkei.
"Als Beitrittskandidatin zur Europäischen Union (EU) muß die türkische Regierung ihr Haftsystem den EU-Richtlinien angleichen", heißt es in der Einleitung. Um sich Anregungen für eine Gefängnisreform zu holen, besuchte eine türkische Regierungsdelegation 1990 die BRD. Ausgerechnet Stuttgart-Stammheim, der wie kein anderer Knast für Isolationshaft, für die gezielte Zerstörung der Persönlichkeit, die sogenannte weiße Folter, steht, wurde ihnen als nachahmenswertes Modell empfohlen. Das wurde von den Regierenden des Bosporusstaates dankbar aufgegriffen und die Idee der Umwandlung der Kollektivunterbringung in ein Kleinzellensystem, den sogenannten F-Typ-Gefängnissen, entstand. Statt wie bisher gruppenweise - und nach ihrer Organisationszugehörigkeit - in Großraumzellen, sollen die Gefangenen jetzt vorwiegend in drei bis sechs Bettzellen untergebracht werden. Außerdem auch in Einzel- und Zweierzellen. Die ersten dieser F-Typ-Knäste sind inzwischen bereits in Betrieb, z. B. Kartal in Istanbul. Andere - wie das Sincan-Gefängnis in Ankara - befinden sich derzeit im Bau, sie können und sollen in Kürze in Betrieb genommen werden.
Im Kartal-Gefängnis (Istanbul) machten inzwischen politische Gefangene die ersten Erfahrungen mit Isolationshaft: Einzelzellen, 24h Einschluß, kein Tageslicht, kein Kontakt zu Mitgefangenen. Die Folge, so Osman Zor nach sechsmonatiger Isohaft zu seinem Anwalt: "Deine Geschmacksnerven, das Riechen, Hören, Fühlen und Sehen verflüchtigen sich. Die Isolation nimmt einer Person jedes Gefühl der persönlichen Sicherheit. Du fühlst Dich, als könntest Du jeden Moment getötet werden."
Der Journalist Ragip Zarakolu beschreibt in der Zeitung Özgürlük (Freiheit) die Folgen für die Gefangenen: "Bei der Isolation ist die Psyche das Angriffsziel, bei der Hinrichtung der Körper." Die Isolation sei eine Hinrichtung auf Raten, so Zarakolu weiter. "Das eigentliche Ziel ist die Schaffung einer Persönlichkeitsstruktur, die sich völlig der Autorität ergibt und beliebig beeinflußbar ist, die Gefangenen zur Akzeptanz aller Befehle bringen, indem sie quasi zu Robotern gemacht werden."
Diesen Eindruck gewann auch die Anwältin und Vorsitzende des Istanbuler IHD, Eren Keskin, nach einem Besuch eines Mandanten im F-Typ-Gefängnis Kartal. Die Gefangenen würden zunächst einmal eine Woche lang allein in einer Doppelzelle eingesperrt, so die Juristin: "Es entsteht der Eindruck, daß bei den Gefangenen ihre Persönlichkeit untersucht wird, indem sie mit plötzlichen Befehlen konfrontiert und zum Gehorsam gezwungen werden sollen. Wenn der Gefangene in der ersten Woche Gehorsam zeigt, läßt sich abmessen, wie er sich in Zukunft anderen Forderungen gegenüber verhalten wird." Die drei genannten Artikel sind in dem Buch vollständig abgedruckt.
Eine Menge Quellentexte, beispielsweise zu Amnestievorhaben und Strafrechtsreformen sowie Anfragen an die Bundesregierung bezüglich des Besuches der türkischen Regierungsdelegation in Stammheim, runden das Handbuch ab. Ein interessanter Lesestoff für diejenigen, die mal in die Themenbereiche 'Türkei-Kurdistan' und 'Iso-Haft' reinschnuppern wollen. Ein Standardwerk für alle, die sich damit ausführlicher befassen möchten und das auf keinem Infotisch zum Thema fehlen sollte.

Birgit Gärtner, Journalistin