junge Welt, 15.12.2015

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Krieg gegen Kurden

Türkische Sicherheitskräfte greifen erneut Innenstadt von Diyarbakir an. Ausgangssperren werden zum Dauerzustand

Von Kevin Hoffmann, Istanbul

Es ist die mittlerweile sechste Ausgangssperre in den vergangenen zwei Monaten, die über den Stadtteil Sur der südosttürkischen Stadt Diyarbakir verhängt wurde. Laut der kurdischen Nachrichtenagentur ANF waren am gestrigen Montag, dem vierten Tag der Ausgangssperre, ununterbrochen Schüsse und Detonationen aus dem Innenstadtviertel zu hören. Eine große Anzahl von Sicherheitskräften wurde demnach zur Verstärkung nach Sur verlegt. Der Stadtteil soll daraufhin mit Granatwerfern beschossen worden sein.

In einem am Wochenende vorgestellten Bericht der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) wird das Ausmaß der Ausgangssperren deutlich. Den der Stiftung vorliegenden Daten zufolge hat es im ganzen Land zwischen dem 16. August und dem 12. Dezember dieses Jahres insgesamt 52 unbegrenzte und rund um die Uhr anhaltende Ausgangssperren gegeben. Die Zahl der Tage, an denen es in den vergangenen sechs Monaten Ausgangssperren gab, wird von der Stiftung mit 163 angegeben. Im selben Zeitraum sollen mehr als 140 Zivilisten von den türkischen Sicherheitskräften getötet worden sein. Die Ausgangssperren wurden in 17 Kreisen in sieben kurdischen Provinzen im Südosten der Türkei verhängt. Allein in der Provinz Diyarbakir gab es an 94 Tagen Ausgangssperren. Insgesamt waren bisher rund 1,3 Millionen Menschen betroffen.

Ein Ende der Repression ist indes nicht abzusehen. Am vergangenen Sonntag wurde der kurdische Jugendliche Takyedin Oral in Dargecit in der Provinz Mardin von Sicherheitskräften erschossen. Zudem wird von einer unbekannten Zahl weiterer Verwundeter gesprochen. Wie auf von kurdischen Nachrichtenagenturen in den letzten Wochen verbreiteten Bildern zu sehen ist, richteten die Attacken des Militärs, darunter Luftangriffe durch Armeehubschrauber, in den von Ausgangssperren betroffenen Stadtteilen und Ortschaften Verwüstungen an, die kaum noch von denen in Städten im benachbarten Bürgerkriegsland Syrien zu unterscheiden sind.

Wie die kurdische Frauennachrichtenagentur JINHA berichtete, hat sich in Sur vor der neuerlich verhängten Ausgangssperre eine neue Frauenorganisation gegründet, um den Stadtteil vor den Angriffen der türkischen Sicherheitskräfte zu schützen. Die Organisation hat sich den Namen Frauenverteidigungseinheiten Sur (YPJ-S) gegeben. Eine Sprecherin erklärte: »Wir wurden von den YPJ inspiriert, als wir die Frauenverteidigungseinheiten in Sur gründeten.« So benutzen die Frauen in Sur auch die Fahnen der Frauenverteidigungskräfte (YPJ) aus dem nordsyrischen Selbstverwaltungskanton Rojava sowie die der Kurdischen Frauenbefreiung (KJK). Gemeinsam organisieren sie solidarische Selbsthilfe. Laut JINHA waren alle Haustüren in dem Stadtteil geöffnet, es sei gemeinsam gekocht und gegessen worden. Auch die Vorbereitungen auf die nächste Ausgangssperre und die Angriffe des türkischen Staatsmacht seien kollektiv getroffen worden.

Parallel dazu wurden in den vergangenen Tagen mehr als 150 bewaffnete Militärfahrzeuge um die Bezirke Cizre und Silopi in der Provinz Sirnak zusammengezogen, wie ANF berichtete. Patrouillierende Polizisten würden wahllos Schüsse abfeuern. Der Gouverneur von Sirnak hat alle Schulen in Cizre und Sirnak vom gestrigen Montag bis zum morgigen Mittwoch schließen lassen und alle Lehrer aufgerufen, die Bezirke umgehend zu verlassen. Für Montag abend war die Ausrufung einer unbegrenzten Ausgangssperre für die beiden Bezirke sowie für den Bezirk Nusaybin angekündigt. Die öffentlichen Dienste einschließlich der Gesundheitsversorgung, auch das stand vorab bereits fest, werden für die Zeit der Ausgangssperre nicht sichergestellt sein. In Istanbul, Izmir und Diyarbakir hat die Polizei in den vergangenen Tagen Proteste gegen die Ausgangssperren unter Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas gewaltsam aufgelöst.