Die Presse, 04.12.2015

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Die Türkei vor der Rückkehr in dunkle Zeiten

Gastkommentar. Der türkische Staat spielt ein brandgefährliches Spiel mit den Kurden.

Hülya Tektas (Die Presse)

Die Kurden haben wieder einen ihrer besten Köpfe verloren. Tahir Elçi, der Vorsitzende der Anwaltskammer der kurdischen Metropole Diyarbakir, wurde am vergangenen Samstag während einer Pressekonferenz erschossen. Mit einem Schuss in den Kopf wurde der Menschenrechtsaktivist hingerichtet. Seine Mandanten, größtenteils Opfer von Menschenrechtsverletzungen, hatte er auch vor dem Europäischen Gerichtshof vertreten.

Elçi drohte ein Prozess wegen terroristischer Propaganda, weil er in einer Fernsehsendung erklärt hatte, dass die PKK, also die Arbeiterpartei Kurdistans, keine terroristische Organisation, sondern eine bewaffnete politische Bewegung sei. Diese Aussage und sein Einsatz für den Frieden wurden ihm zum Verhängnis.

Aufruf zum Frieden

Kurz bevor er erschossen wurde, rief er mit seinen letzten Worten noch einmal zum Frieden auf: „Wir sagen, der Krieg, die Kämpfe, die Waffen, die Einsätze sollen fernbleiben von hier“ (mit „hier“ sind die kurdischen Gebiete in der Türkei gemeint).

Nach einer sehr kurzen Phase der Friedensgespräche zwischen dem türkischen Staat und PKK-Chef Abdullah Öcalan steuert die Türkei mit rasanter Geschwindigkeit ins Chaos. Und wieder sind die Kurden die Leidtragenden.

Jene kurdischen Städte, die die Selbstverwaltung ausgerufen haben, sind seit Monaten mit Angriffen von türkischen Sondereinheiten konfrontiert. Während der bis zu zwei Wochen dauernden Ausgangssperren kämpfen diese Sondereinheiten mitten in Wohngegenden und ohne Rücksicht auf Zivilisten gegen die PKK-Guerillas.

Trauer, Zorn, Angst, aber auch trotziger Widerstandswille machen sich unter Millionen von Kurden breit. Der Mord an Tahir Elçi erinnert sie an die dunklen 1990er-Jahre, als viele politisch aktive Kurden von nach wie vor unbekannten Attentätern ermordet wurden. Elçi, der sich für die Aufklärung dieser Morde eingesetzt hatte, wurde nun selbst Opfer eines „ungeklärten Mordes“.

Vor dem nächsten Krieg

Dieses Verbrechen betrifft nicht nur die Person Tahir Elçi, sondern alle Kurden in der Türkei. Es ist eine Drohung an alle politisch und intellektuell aktiven Kurden. Der Krieg gegen die Kurden scheint wieder von vorn zu beginnen.

Die Zerstörung von nahezu 4000 kurdischen Dörfern hatte zur Folge, dass deren Bewohner bereits seit Jahren in türkischen Städten leben müssen. Dort wurden sie im vergangenen Jahrzehnt von PKK-Guerillas mobilisiert.

Im Gegensatz zu den Repressionen in den 1990er-Jahren führen die aktuellen Repressionen des türkischen Staates gegen die Kurden auch in türkischen Metropolen zu Unruhen. Diese erschweren wiederum das Zusammenleben von Kurden und Türken. Ob in ihrer Heimat, in kurdischen Städten oder in türkischen Metropolen – Kurden werden die unerträgliche Schwere ihres Kurdenseins weiterhin zu spüren bekommen.

Den Kurden in der Türkei stehen blutige Zeiten bevor. Nicht nur scheinen alle ihre Friedensträume geplatzt zu sein – die Kurdenphobie des türkischen Staates wird mit großer Wahrscheinlichkeit den nächsten Krieg im krisengeplagten Nahen Osten entstehen lassen.

EU sieht weg – und spendet

Dabei schaut die Europäische Union den vonseiten der Türkei begangenen Menschenrechtsverletzungen weiter tatenlos zu. Ja, sie stärkt der Türkei mit einem millionenschweren Deal sogar noch den Rücken, um so das Elend von Millionen Flüchtlingen von Europa fernhalten zu können.

Hülya Tektas ist Kurdin, geboren und aufgewachsen in Istanbul. Sie lebt seit 1998 in Wien. Soziologin. Arbeitet zurzeit als Sozialberaterin und freie Journalistin.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2015)