junge Welt, 02.12.2015

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Staatliche Verdunkelung

Kaum Hoffnung auf Aufklärung des Mordes an kurdischem Menschenrechtsanwalt

Von Nick Brauns

Der am Samstag im südostanatolischen Diyarbakir ermordete Vorsitzende der örtlichen Anwaltskammer, Tahir Elci, hatte sich als Menschenrechtsanwalt für die Aufklärung der Morde von »unbekannten Tätern« an kurdischen Aktivisten eingesetzt. Auch der Anschlag auf Elci droht, in die lange Liste ungesühnter politischer Morde in der Türkei aufgenommen zu werden.

Elci war im Anschluss an eine Pressekonferenz im Altstadtviertel von Diyarbakir, auf der er gegen die Zerstörung des historischen Kulturerbes der Stadt bei Gefechten zwischen der Polizei und kurdischen Rebellen protestiert hatte, auf offener Straße erschossen worden. Bei einem Gefecht zwischen der Polizei und den unbekannten Angreifern waren auch zwei Polizisten getötet wurden.

Nach dem Mord wurde zwar eine bis Montag andauernde Ausgangssperre über das Viertel verhängt, doch es fand keinerlei Tatortsicherung statt. Das berichtete der Politiker der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), Naci Sapan, nach einem Besuch vor Ort am Montag gegenüber der Zeitung Hürriyet. Kinder würden mit herumliegenden Patronenhülsen spielen, und das Blut des Ermordeten sei noch auf dem Boden zu sehen.

Erst zwei Tage nach dem Mord untersuchten Ermittler den Tatort. Bei einem ersten Versuch am Samstag seien die Staatsanwälte von Unbekannten mit Gewehren und Raketenwerfern attackiert worden, hatte die Regierung behauptet. Auch am Montag seien die Ermittler wieder unter Beschuss gekommen. Von 83 festgestellten Beweismitteln konnten bis dahin nur 40 gesichert werden, berichtete die Zeitung Hürriyet Daily News.

»Wenn es jemanden gibt, der den Fall vertuschen will, so ist das die Terrororganisation«, beschuldigte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am Montag die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die Ermittler beschossen zu haben. Regierungsvertreter hatten bereits kurz nach der Tat am Samstag behauptet, dass der tödliche Schuss auf Elci gefallen sei, nachdem PKK-Militante das Feuer auf die Polizei eröffnet hätten.

Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) geht – ebenso wie die PKK – davon aus, dass der Staat in den Mord verwickelt ist. Er sei »sicher«, dass Elci durch eine Polizeikugel starb, erklärte der HDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtas am Dienstag in Ankara. Der Nachweis könne durch das Auffinden des tödlichen Geschosses erbracht werden. Doch der türkische Staat sei dafür verantwortlich, dass keine adäquate Untersuchung stattgefunden habe. Nach Informationen der HDP habe es überhaupt keinen Angriff auf die Staatsanwälte gegeben. Diese seien von der Polizei aus dem Viertel evakuiert worden, nachdem Schüsse zu hören waren.

Forensische Untersuchungen hatten ergeben, dass Elci aus größerer Entfernung durch einen Schuss in den Nacken getötet wurde. Dies deutet auf die gezielte Tat eines Scharfschützen und nicht auf einen zufälligen Querschläger hin. Fragen werfen veröffentlichte Videoaufnahmen von Journalisten und Überwachungskameras auf. Dort sind Zivilpolizisten zu sehen, die aus nächster Entfernung auf ihnen entgegenlaufende Angreifer feuern, ohne diese zu treffen. Der Verdacht liegt nahe, dass die Polizisten absichtlich danebenschossen oder Platzmunition benutzten.

Im Parlament scheiterte am Montag ein Antrag der HDP auf Einsetzung einer Untersuchungskommission »zur Aufklärung der Vorgänge, die Elcis zum Ziel gemacht und den Boden für seine Ermordung bereitet haben« an den Stimmen der Regierungspartei AKP und der faschistischen MHP. Nachdem Elci in einer Fernsehdiskussion im Oktober erklärt hatte, die PKK sei keine terroristische, sondern eine bewaffnete politische Organisation, war er vorübergehend festgenommen worden. Die Staatsanwaltschaft forderte sieben Jahre Haft wegen »Propaganda für eine Terrororganisation«. Die Eröffnung des Strafverfahrens sei der Beitrag der Regierung zum »Lynchregime« gegen Elci gewesen, erklärte der Vizefraktionsvorsitzende der HDP, Idris Baluken, bei der Begründung des Antrages unter Verweis auf Todesdrohungen, die der Anwalt nach Hetzartikeln in der regierungsnahen Presse erhalten hatte.

Der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrikulu, ein enger Freund des Ermordeten und dessen Vorgänger als Chef der Anwaltskammer, erinnerte während der Parlamentsdebatte daran, dass Nackenschüsse ein Erkennungszeichen des Geheimdienstes der Militärpolizei Jitem bei der Ermordung kurdischer Oppositioneller in den 90er Jahren waren.