Neue Zürcher Zeitung, 30.11.2015

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Tod eines kurdischen Menschenrechtsanwalts

Nach Friedensappell erschossen

Der Tod des bekannten Bürgerrechtsaktivisten Tahir Elci hat in der Türkei Bestürzung ausgelöst. Ob die Hintergründe der Tat jemals aufgeklärt werden, ist fraglich.

von Marco Kauffmann Bossart, Istanbul

Am Sonntag haben in der osttürkischen Provinzhauptstadt Diyarbakir rund 50 000 Trauernde an der Bestattung des kurdischen Menschenrechtsanwalts Tahir Elci teilgenommen. Der 49-Jährige war am Vortag im Kugelhagel zwischen Sicherheitskräften und unbekannten Tätern getötet worden. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu will untersuchen lassen, ob Elci ermordet wurde oder ob er versehentlich ins Kreuzfeuer geraten war. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan erklärte, der Gewaltakt zeige, dass es richtig sei, den Kampf gegen den Terrorismus fortzusetzen.

Hunderte von Todesdrohungen

Während die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) von einem «geplanten Mord» sprach, bezichtigte die staatsnahe Nachrichtenagentur Anadolu reflexartig die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) der Urheberschaft. Dass ihn offenbar ein einzelner Schuss in den Hinterkopf tötete, deutet auf einen Mord hin.

Elci hatte sich am Samstagvormittag vor der Seyh-Mutahhar-Moschee, einem Wahrzeichen Diyarbakirs, an die Medien gewandt. «Wir wollen keine Waffen, keine Kämpfe, keine Polizeiaktionen in dieser Gegend, die zahlreiche Zivilisationen überdauert hat», appellierte der zweifache Vater. Die religiöse Stätte im Stadtteil Sur war bei Strassenkämpfen zwischen militanten Jugendlichen und Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte schwer beschädigt worden. Wenig später fielen Schüsse. Nach Darstellung der Behörden wurden zunächst die vor Ort präsenten Sicherheitskräfte angegriffen. Beim anschliessenden Feuergefecht wurden auch zwei Polizisten getötet, mindestens zehn weitere Personen erlitten Verletzungen. Bis anhin hat niemand die Urheberschaft für sich reklamiert. Auch gab es zunächst keine Festnahmen.

Elci hatte in den letzten Wochen offenbar Hunderte von Todesdrohungen aufgebrachter Nationalisten erhalten, weil er in einem Interview mit CNN Türk sagte, die PKK sei keine terroristische Organisation. Er umschrieb die bewaffnete Gruppierung als politische Bewegung, die breite Unterstützung geniesse, auch wenn einige ihrer Aktionen terroristischer Natur seien. Nach diesen Aussagen wurde er vorübergehend verhaftet. Demnächst sollte ihm wegen Verbreitung von Propaganda für die PKK der Prozess gemacht werden; die Staatsanwaltschaft in Istanbul beantragte eine Gefängnisstrafe zwischen eineinhalb und siebeneinhalb Jahren.

Im Juli zerbrach der zweijährige Waffenstillstand zwischen der türkischen Regierung und der PKK, worauf der Bürgerkrieg, dem seit den 1980er Jahren mehr als 40 000 Personen zum Opfer gefallen sind, wieder aufflammte. Neben der Türkei stufen auch die EU und Amerika die PKK als terroristische Gruppierung ein. Allerdings gab es im westlichen Lager vor der Eskalation im Sommer Bestrebungen, diese Klassifizierung aufzuheben, zumal sich kurdische Milizen als Verbündete gegen die Extremisten des Islamischen Staats (IS) profilierten.

Misstrauen gegen den Staat

Elci, der die Anwaltskammer von Diyarbakir präsidierte, genoss über die kurdischen Gebiete hinaus grosses Ansehen. Der britische Botschafter in der Türkei, Richard Moore, würdigte ihn auf Twitter als Freund und mutigen Verteidiger der Menschenrechte. Wiederholt hatte Elci kurdische Klienten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrecht vertreten. Seine Kanzlei bereitete zuletzt auch eine Sammelklage gegen den türkischen Staat vor. Sie steht im Zusammenhang mit den zivilen Opfern in der hauptsächlich von Kurden bewohnten Stadt Cizre . Die PKK-Hochburg war tagelang unter eine rigorose Ausgangssperre gestellt worden.

Wenngleich die Führung in Ankara nach dem tragischen Tod Elcis eine lückenlose Aufklärung verspricht, bestehen Zweifel, ob das gelingen wird. Die Ermittlungen der Terroranschläge von Diyarbakir im Juni, von Suruc im Juli sowie von Ankara im Oktober, bei denen rund 150 Personen ums Leben kamen, verlaufen schleppend. Die politische Führung verbreitet derweil wenig plausible Theorien, und der Justiz mangelt es an Unabhängigkeit.

Das fehlende Vertrauen gegenüber dem Staat manifestierte sich an verschiedenen Gedenkkundgebungen für den getöteten Anwalt. In Istanbul skandierten Demonstranten «Mörderstaat», worauf die Polizei die Kundgebung mit Tränengas und Wasserwerfern auflöste. Auch in der Hauptstadt Ankara sowie in Izmir gedachten Tausende Elcis. Über die Altstadt von Diyarbakir wurde nach Zusammenstössen eine Ausgangssperre verhängt.