junge Welt, 30.11.2015

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»Mörder Erdogan«

Opposition macht türkische Führung für Anschlag auf kurdischen Anwalt ­verantwortlich. EU bezahlt Ankara für Flüchtlingsabwehr

Von Fuoco Savinelli

Einen Tag vor Beginn des EU-Türkei-Gipfels in Brüssel erschütterte der Mord an einem bekannten kurdischen Juristen und Menschenrechtsaktivisten die Türkei. Der Vorsitzende der Anwaltskammer von Diyarbakir, Tahir Elci, wurde am Samstag in der südostanatolischen Metropole auf offener Straße erschossen. Zuvor hatten Elci und weitere Anwälte gegen die Zerstörung historischen Erbes in der Altstadt von Diyarbakir bei vorangegangenen Polizeioperationen protestiert. Im Anschluss an eine Pressekonferenz vor dem durch Schüsse beschädigten vierfüßigen Minarett – einem Wahrzeichen der Kurdenmetropole – habe ein Mann aus nächster Nähe auf Elci geschossen und sei dann weggerannt. Daraufhin sei ein Feuergefecht entbrannt, schilderte ein Journalist der Agentur Cihan den Vorfall. Von türkischen Medien verbreitete Videoaufnahmen zeigen wild um sich schießende Zivilpolizisten. Dabei ruft ein Polizist offenbar einem der Angreifer zu, dieser solle weglaufen, ehe er gesehen werde. Forensische Untersuchungen ergaben, dass Elci aus großer Entfernung mit einem Schuss von hinten in den Nacken getötet wurde. Dies könnte auf die Tat eines in der Umgebung stationierten Scharfschützen während des durch die Schießerei ausgebrochenen Chaos hindeuten.

Auch zwei Polizisten wurden bei dem Feuergefecht mit den unbekannten Angreifern getötet. Anschließend seien Rechts- und Staatsanwälte, die sich den Ort des Verbrechens ansehen wollten, unter Beschuss geraten, meldete die Nachrichtenagentur Dogan. Dabei sollen Sturmgewehre und Raketenwerfer zum Einsatz gekommen sein. Über die Altstadt von Diyarbakir wurde eine Ausgangssperre verhängt, in mehreren Stadtteilen kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Auch in Istanbul ging die Polizei gewaltsam gegen Demonstranten vor, die Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan beschuldigten, hinter Elcis Ermordung zu stecken. Zehntausende Menschen, darunter Politiker der prokurdischen und kemalistischen Opposition, beteiligten sich am Sonntag an der Trauerfeier für den Anwalt in Diyarbakir. Auch Fahnen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK waren in der Menschenmenge zu sehen. Tausende skandierten »Mörder Erdogan«.

Der Anschlag auf Elci zeige, wie recht die Türkei mit ihrem entschiedenen Kampf gegen den Terrorismus habe, erklärte Präsident Erdogan am Samstag. Es sei unklar, ob Elci Opfer eines Mordanschlags wurde oder ins Kreuzfeuer von Polizei und »Terroristen« geraten sei, meinte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu behauptete bereits kurz nach dem Tod Elcis, dieser sei »einem bewaffneten Angriff von PKK-Terroristen« zum Opfer gefallen.

Dagegen verwies die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), die ebenso wie die Anwaltskammer von einem »geplanten Mordanschlag« ausgeht, darauf, dass Elci aufgrund seines Einsatzes für Gerechtigkeit und Frieden ins Fadenkreuz der Regierung und ihrer Medien geraten sei. So war der Jurist am 19. Oktober festgenommen und wegen »Propaganda für eine Terrororganisation« angeklagt worden. In einer Fernsehdiskussion hatte er zuvor erklärt, die PKK sei keine Terrororganisation. Sie sei vielmehr eine über Unterstützung der Bevölkerung verfügende »bewaffnete politische Bewegung«, deren Aktionen manchmal als terroristisch einzustufen seien. Eine solche Aussage sei in den Augen des Staates das schwerste Verbrechen, heißt es in einer am Sonntag veröffentlichten Kondolenzbotschaft der PKK-Führung. Dafür sei Elci von »Gladio-Einheiten des Palastes« – gemeint ist Erdogan – mit einer »Polizeikugel« bestraft worden.

Am Sonntag begann derweil in Brüssel ein Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs mit der türkischen Führung. Für die Zusage eines besseren Schutzes der EU-Außengrenzen vor Flüchtlingen soll Ankara drei Milliarden Euro erhalten. Offiziell sollen sie zur Versorgung syrischer Flüchtlinge in der Türkei verwendet werden. Auch eine Beschleunigung des EU-Beitrittsprozesses sowie Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger sind im Angebot. Auf dem Seeweg von der Westtürkei nach Griechenland sind am Wochenende erneut Flüchtlinge gestorben. Im westtürkischen Bezirk Ayvacik wurden fünf Leichen an die Küste gespült, darunter die zweier Babys.

Die leitenden Redakteure der liberalen Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar und Erdem Gül, appellierten am Sonntag an Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit der Türkei keine Kompromisse in Fragen der Menschenrechte zu schließen. »Wir hoffen, dass die bestmögliche Lösung für die Flüchtlingskrise Sie nicht daran hindern wird, weiterhin die westlichen Werte wie Bürgerrechte, Meinungs- und Pressefreiheit hochzuhalten und sie zu verteidigen«, heißt es in dem im Hochsicherheitsgefängnis Silivri verfassten offenen Brief.

Die Journalisten waren in der vergangenen Woche unter dem Vorwurf der Spionage und des Geheimnisverrats verhaftet worden. Zuvor hatte Erdogan persönlich Anzeige erstattet, weil die Cumhuriyet im Mai Fotos von offenbar für die Terrororganisation »Islamischer Staat« in Syrien bestimmten illegalen Waffentransporten des Geheimdienstes veröffentlicht hatte. Auch zwei Generäle und ein Oberst der Militärpolizei wurden am Wochenende unter Spionagevorwurf verhaftet – sie hatten im Januar 2014 einen mit Munition beladenen LKW-Konvoi auf dem Weg nach Syrien stoppen lassen.