Neue Zürcher Zeitung, 13.12.2008

Stunde der Wahrheit für den Ilisu-Staudamm

Ausstieg aus dem Projekt könnte die EGL-Pipeline gefährden

Die 60-tägige Nachfrist für die türkische Regierung ist abgelaufen. Die österreichische Regierung denkt laut über einen Rückzug aus dem gigantischen Staudammprojekt am Tigris nach. Für die Schweiz stehen neben den Bauaufträgen noch andere Interessen auf dem Spiel.

sig. Ob sich die Schweiz weiterhin am Bau des umstrittenen Ilisu-Staudamms in Südostanatolien beteiligt, soll «frühestens in einer Woche» entschieden werden. Dies sagte Sonja Kohler, die Mediensprecherin der Schweizerischen Exportrisikoversicherung (SERV), auf Anfrage. Am Freitag ist die 60-tägige Frist abgelaufen, die der Türkei eingeräumt worden war, um über 150 Auflagen zum Umwelt-, Bevölkerungs- und Kulturgüterschutz zu erfüllen oder zumindest die Fortschritte zu dokumentieren. Nichtregierungsorganisationen wie die Erklärung von Bern sind überzeugt, dass die Türkei die von der Weltbank aufgestellten Bedingungen ignoriert und – entgegen den Abmachungen – bereits mit den Bauarbeiten begonnen hat. Gemäss den türkischen Behörden haben die von NGO fotografierten Baustellen keinen Zusammenhang mit dem geplanten 300 Quadratkilometer grossen Stausee.

Noch eine Nachfrist denkbar

Die SERV ist zusammen mit den Exportrisiko-Agenturen Deutschlands und Österreichs am Wasserkraftprojekt beteiligt, welches die Umsiedlung von mehreren zehntausend Personen vorsieht. Die drei staatlichen Versicherungen wollen laut der SERV-Sprecherin gemeinsam über das weitere Vorgehen entscheiden. Kommt man in Bern, Berlin und Wien zum Schluss, dass die Türkei die vergangenen 60 Tage nicht genutzt hat, um den vertraglichen Abmachungen nachzukommen, können die drei Staaten eine zusätzliche Frist ansetzen. Steigen die staatlichen Versicherungen aus, dürften sich auch die europäischen Unternehmen zurückziehen. Das Projekt müsste neu aufgegleist werden. Aus der Schweiz liefern Alstom, Colenco, Maggia und Stucky für 225 Millionen Franken Material und Dienstleistungen in die Türkei.

Während die deutsche und die schweizerische Regierung in den letzten Wochen zurückhaltend kommunizierten, lehnte sich der neue österreichische Aussenminister, Michael Spindelegger, am Mittwoch weit aus dem Fenster: «Wenn man Auflagen vorher definiert hat und diese nicht erfüllt werden, dann kann es auch kein Geld geben», sagte er in einem Fernsehinterview. Er gehe mit den Staudamm-Gegnern einig, dass die Türkei die Auflagen nicht erfüllt habe, so der ÖVP-Minister. Ob seine Worte nur als eine Warnung gedacht sind, wird sich weisen.

Erdgas-Durchleitung

Spindeleggers Tonfall unterscheidet sich jedenfalls deutlich von jenem der Schweizer Bundesräte, die in den letzten Monaten eine regelrechte Türkei-Offensive lanciert haben. Die Landesregierung verhängte unüblich scharfe Massnahmen gegen PKK-Gruppierungen in der Schweiz, und gleich drei ihrer Mitglieder (Bundespräsident Pascal Couchepin sowie die Bundesrätinnen Micheline Calmy-Rey und Doris Leuthard) besuchten das Land in diesem Herbst.

Dabei kam das Ilisu-Projekt natürlich auch zur Sprache. Doch im Zentrum der diplomatischen Bemühungen stand die Axpo-Tochterfirma EGL, die Erdgas von Iran und Aserbeidschan nach Italien transportieren will. Sie hat von der türkischen Regierung bisher noch kein Durchleitungsrecht erhalten. Dabei geht es um Milliardengeschäfte, die der zuständigen Bundesrätin von ihrer früheren Tätigkeit her bekannt sind. Doris Leuthard sass früher im EGL-Verwaltungsrat, jetzt wird sie als Volkswirtschaftsministerin über die weitere Beteiligung der Exportrisikoversicherung am Ilisu-Staudamm befinden.