St. Galler Tagblatt, 29.03.2007

Definitives Ja zum Ilisu-Damm

Schweizer Firmen sichern sich beim umstrittenen Staudammprojekt namhafte Aufträge – Entscheid stösst auf scharfe Kritik

Der Bundesrat bewilligt definitiv die Exportrisikogarantie für den umstrittenen Bau des Ilisu-Staudamms im Südosten der Türkei. Die Auflagen zur Milderung der sozialen und ökologischen Folgen erachtet er als erfüllt.

marc lettau/Bern

Viel Spielraum hatte der Bundesrat letztlich nicht mehr: Nach Österreich hat Anfang dieser Woche auch Deutschland erklärt, das Engagement österreichischer und deutscher Firmen beim Bau des Ilisu-Staudamms mit Exportbürgschaften zu unterstützen. Gestern hat die Schweizer Regierung nun nachgezogen: Die Schweizer Firmen Alstom, Colenco, Maggia und Stucki erhalten die definitive Zusage für eine Exportrisikogarantie über 225 Millionen Franken.

Im Grundsatz hatte der Bundesrat bereits Mitte Dezember entschieden, der Exportrisikogarantie zuzustimmen. Doch diese Weichenstellung erfolgte nicht ohne kritische Zwischentöne: «Es war keine einfache Entscheidung, das Projekt zu befürworten», sagte damals Volkswirtschaftsministerin Doris Leuthard.

Breite Kritik

Die Bedenkenträger sind aber primär ausserhalb der Regierungsetagen zu finden: Im Vorfeld des Entscheids machten türkische Bürgerbewegungen und entwicklungspolitische Organisationen aus der Schweiz auf die möglicherweise verheerenden Folgen des gigantischen Staudammprojekts aufmerksam und verlangten, die Schweiz müsse ihre Mitverantwortung wahrnehmen. Das Volkswirtschaftsdepartement (EVD) macht nun geltend, der Exportrisikogarantie sei mitnichten vorbehaltlos zugestimmt worden. Laut EVD haben die staatlichen Exportkreditversicherer von Österreich, Deutschland und der Schweiz insgesamt 150 Auflagen in den Bereichen Umwelt, Umsiedlung, Kulturgüter und Anrainerstaaten vereinbart. Zudem habe ein unabhängiges Expertengremium bestätigt, dass jene Auflagen, die vor der Zusage erfüllt sein müssten, tatsächlich «zufriedenstellend» erfüllt seien. Ein Druckmittel bleibt den drei involvierten Exportrisikoagenturen: Sollten im Zuge des Baus Auflagen nicht erfüllt werden, haben sie ein Krediteingriffsrecht.

Schützende Auflagen

So muss der türkische Bauherr unter anderem Kläranlagen in den vom Dammbau tangierten Städten Diyarbakir, Siirt und Batman bauen, um so zu verhindern, dass der neue Stausee zur gigantischen Kloake wird. Auflagen von politischer – genau genommen sicherheitspolitischer – Bedeutung betreffen die Mindestwassermengen, die die Türkei weiter in die Nachbarstaaten fliessen lassen muss. Die Anrainerstaaten Irak und Syrien fürchten nämlich, die Türkei könne den Wasserhaushalt zu ihrem Nachteil regulieren und als Druckmittel verwenden. In Sorge sind zudem die Bauern am Unterlauf des Tigris: Sie waren bislang auf die jährlichen Überschwemmungen angewiesen. Diese werden künftig ausbleiben.

Der Bundesrat macht in Kenntnis solcher Risiken geltend, nach seiner Einschätzung seien die Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei und auf den Wirtschaftsstandort Schweiz insgesamt positiv, zumal damit erneuerbare Energieressourcen gefördert würden.

Diese Haltung löst freilich bei der entwicklungspolitischen Organisation Erklärung von Bern nur Kopfschütteln aus. Der Entscheid des Bundesrats stosse «bei Betroffenen und deren zivilgesellschaftlicher Anwaltschaft auf harsche Kritik». Die Türkei habe bisher keine der international geforderten Standards umgesetzt. Und die Schweizer Regierung habe sich «offenkundig politischem Druck aus der Türkei gebeugt».

Erstes Ja-Wort des Bundesrates

Das Ja-Wort des Bundesrates ist ein vorläufiger Schlusspunkt hinter eine keineswegs geradlinig verlaufene Geschichte. 1998 hatte der Bundesrat den ursprünglich am Projekt beteiligten Schweizer Firmen – ABB und Hydro Sulzer – grundsätzlich eine Exportrisikogarantie im Umfang von 470 Millionen Franken gewährt. Die Garantie wurde wegen schleppenden Projektverlaufs aber auf Eis gelegt. 2002 entschied sich die Grossbank UBS, aus dem Projekt auszusteigen. Einer der Gründe: ungenügende Massnahmen zur Eindämmung sozialer und ökologischer Folgen. Das Staudammprojekt wurde nach diesem Rückzieher punktuell überarbeitet und neu aufgelegt. Daraufhin beantragten die Schweizer Firmen Alstom, Maggia, Stucki und Colenco eine Exportrisikogarantie.

Kommentar
Fressen kommt vor Moral

Die türkische Regierung erwartete von der Schweiz bis Ende März eine Exportrisikogarantie für den Bau des Ilisu-Staudamms. Diese Garantie wurde gestern erteilt.

Das Schweizer Nachgeben hat hauptsächlich zwei Gründe: Erstens stehen gewichtige wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel. Die vier beteiligten Schweizer Firmen profitieren von einem Millionenauftrag im lukrativen Wasserkraftmarkt. Das sichert Arbeitsplätze in der Schweiz und eröffnet Möglichkeiten für Kompensationsgeschäfte. Und zweitens wäre ein Schweizer Nein ein politischer Affront gewesen für die Türkei, die sich einigermassen bemüht hat, Bedenken punkto Umweltvorschriften und Einhaltung der Menschenrechte zu zerstreuen. In Zeiten, in denen die Beziehungen zu Ankara angespannt sind, wollte der Bundesrat nicht noch Öl ins Feuer giessen.

Der Entscheid der Landesregierung ist trotzdem fragwürdig. Denn zu viele Fragen sind noch offen. Nicht definitiv geklärt ist zum Beispiel das ökonomische Schicksal der 50 000 Menschen, die ihr Land verlieren. Vor türkischen und internationalen Gerichten sind zudem noch Einsprachen hängig. Dass sich die betroffene (kurdische) Bevölkerung kaum zum Projekt hat äussern können, ist mehr als nur ein Schönheitsfehler. Kurz: Das Fressen kommt für den Bundesrat vor der Moral. Dabei müsste es sich gerade ein Land wie die Schweiz leisten, moralische Fragen stärker zu gewichten. Stefan Schmid
s.schmid@tagblatt.ch