Neue Zürcher Zeitung, 17.12.2006

Lokaler Widerstand gegen den geplanten Ilisu-Staudamm

Hasankeyf im Südosten der Türkei zwischen Hoffnung und Angst

Der Bau des Ilisu-Staudamms spaltet die Türkei. Im historischen Städtchen Hasankeyf am Tigris kollidiert die Vision Ankaras, durch ein Netz riesiger Staudämme im bitterarmen Südostanatolien einen wirtschaftlichen Aufschwung zu erreichen, mit dem Wunsch der Einheimischen, diese historisch wertvolle Stätte vor der Zerstörung zu retten.

Von unserer Türkei-Korrespondentin Amalia van Gent
Hasankeyf, Ende September

Das Wahrzeichen des Städtchens Hasankeyf am Ufer des Tigris im Südosten der Türkei ist das Minarett der Rizk-Moschee. Es ist ein schlankes, Anfang des 15. Jahrhunderts aus gelbem Sandstein gebautes Minarett, das über die Häuser in den tiefblauen Himmel ragt. Die Entstehung des Tigris erklärt der Imam der Moschee, Ahmet Yurteri, mit folgender Legende: Allah habe eines Tages den Erzengel Daniel aufgefordert, von der Quelle des Flusses mit dem kristallklaren Wasser im Norden bis in die Stadt Basra im fernen Süden eine Linie zu ziehen. Achte darauf, dem Besitz der Armen und Notleidenden keinen Schaden zuzufügen, habe Allah seinem Engel gesagt. Daniel habe mit seinem Zepter die Linie gezogen. So gleiche der Verlauf des Flusses nicht einer geraden Linie, sondern einer wilden Zickzacklinie, weil es schon damals in dieser Region viele Arme und Notleidende gegeben habe.

Vision von einem neuen Garten Eden
Bei Hasankeyf fliesst der Tigris tatsächlich in einer scharfen Windung rund um eine Felswand, die im Sonnenlicht rotweiss schimmert und über 200 Meter abfällt. Dutzende von dunklen Höhlen sind offenbar von Menschenhand oberhalb des Flussufers aus den Felsen gehauen worden. Die Überreste einer mächtigen Steinbrücke über den Tigris aus dem 15. Jahrhundert zeugen davon, dass Hasankeyf schon damals ein wichtiges Zentrum gewesen sein muss. Jedenfalls war die Ortschaft wegen ihres Wasserreichtums schon zu Beginn unserer Zeitrechnung umkämpft. Die christlichen Byzantiner und Assyrer herrschten hier im ersten Jahrtausend, bis die arabisch-islamischen Abassiden die Macht übernahmen. Diese wurden ihrerseits wieder vertrieben von den Seldschuken, den Mongolen, den Artukiden und Ayykubiden. Jeder hinterliess Spuren. Während die Herrschenden Paläste, Kirchen und Moscheen errichten liessen, schlugen ihre Untertanen Höhlen in die weichen Gesteinsformationen. Rund 10 000 Höhlen soll es laut türkischen Archäologen im Gebiet geben. Ein Grossteil von ihnen wurde bis weit in die siebziger Jahre noch bewohnt.
Hasankeyf ist auch heute umkämpft, nämlich von den Verfechtern und Gegnern des sogenannten Südostanatolien-Projekts (GAP). Die Vision, das Wasser der biblischen Ströme Euphrat und Tigris in Südostanatolien durch Staudämme nutzbar zu machen, hatte zuerst dem Politiker Süleyman Demirel vorgeschwebt. Die Dämme würden wie ein Collier den Hals der Türkei schmücken, sagte er in den siebziger Jahren. Seither wird Demirel, der mehrmals Regierungschef war, «Vater der Dämme» genannt. Der Plan für dieses Grossprojekt wurde allerdings erst Anfang der achtziger Jahre fertiggestellt. Das Projekt sieht den Bau von 22 grossen und kleineren Dämmen sowie von 19 Kraftwerken vor. Insgesamt 32 Milliarden Dollar soll es kosten. Es handelt sich um das grösste und wohl auch teuerste Projekt der Türkei seit ihrer Gründung im Jahre 1923.

Bedrohtes Weltkulturerbe?
Trotz diesen beispiellos hohen Kosten haben nach Demirel alle Regierungen der Türkei das Grossprojekt unterstützt. Die politische Elite in Ankara sah im GAP nämlich auch die Verwirklichung ihrer lange gehegten Hoffnungen. Vom Stau der Ströme versprachen sich die Strategen eine Sonderstellung im wasserarmen Nahen Osten. Die Ökonomen hofften, die geplanten Kraftwerke würden die Industrialisierung der Türkei im 21. Jahrhundert vorantreiben. Ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem sollte darüber hinaus die trockene Ebene des oberen Mesopotamien in eine Kornkammer der arabischen Welt und des turksprachigen Zentralasien verwandeln. Vor allem aber versprach sich Ankara, mit der forcierten Entwicklung und den im Zusammenhang mit dem GAP geplanten 4 Millionen neuen Arbeitsplätzen das hauptsächlich von Kurden bewohnte, aufmüpfige Südostanatolien befrieden zu können. Aus der Sicht Ankaras ist die Revolte der Kurden einzig die Folge ihrer wirtschaftlichen und sozialen Rückständigkeit. Herzstück des Grossprojekts ist der 1992 fertiggestellte Atatürk- Staudamm am Euphrat. Der dadurch entstandene See ist mit einem Inhalt von 48,7 Milliarden Kubikmetern Wasser nach dem natürlichen See Van der zweitgrösste der Türkei. Auf seinem Grund liegen Samsat, die ehemalige Hauptstadt der Kommagenen, sowie die Siedlungen zahlreicher Zivilisationen. Durch den Bau des Birecik-Damms wurde Ende 2000 beim Städtchen Halfeti die oströmische Siedlung Zeugma mitsamt ihren wertvollen Mosaiken überflutet.
Durch den Bau des Ilisu-Staudammes am Tigris, der plangemäss bis 2013 fertiggestellt werden soll, werden rund 80 Ortschaften im Wasser versinken. 55 000 Personen müssen ihre angestammte Heimat verlassen. Hasankeyfs historische Moscheen, seine Höhlen sowie die Überbleibsel der Steinbrücke würden für immer verschwinden. Nur die Burg soll wie eine Insel oder wie ein Mahnmal aus dem See ragen, ebenso die Spitze des Minaretts der Rizk-Moschee. Der Imam Ahmet Yurteri ist traurig: «Schaut unsere Monumente an, um uns kennen zu lernen», zitierte er aus einem arabischen Gedicht. «Diese Schätze zeigen, dass wir existiert haben. Wenn sie verloren gehen, schwindet auch die Erinnerung an ihre Schöpfer.»
Am 5. August 2006 hat der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan beim Dorf Ilisu den Grundstein für den Bau des Staudammes gelegt. Er versprach, ein neues Hasankeyf an den Hängen des unweit vom heutigen Städtchen gelegenen Raman-Berges zu bauen. Auch die Bewohner, die das Gebiet für immer verlassen wollten, würden entschädigt. Der neue See solle offen sein für Wassersport. Neue Strassen würden gebaut, um den Zugang zum See zu ermöglichen. Im Projekt seien zudem 25 Millionen Euro vorgesehen, um das historische Erbe Hasankeyfs zu retten, sagte der Regierungschef. Er versprach, einen Teil der Monumente Hasankeyfs in einen Freiluftpark unweit der neuen Stadt zu verlegen.

Rasanter Vertrauensschwund
Einen Tag vor der Grundsteinlegung hatten die Gegner des Ilisu-Staudammes eine Protestaktion organisiert. Wie der Bürgermeister von Hasankeyf, Abdullah Vahap Kusen, sagt, haben bis zu 60 Bürgermeister der Region sowie Dutzende von Nichtregierungsorganisationen, angesehene Archäologen, renommierte Wissenschafter sowie Schriftsteller, Journalisten und Juristen aus dem Westen der Türkei daran teilgenommen. Der Bürgermeister des Städtchens Hafteli, das nach dem Bau des Birecik-Staudamms im Wasser versank, warnte in einer Erklärung die Bürger von Hasankeyf davor, den Fehler der Bewohner seines Dorfes zu wiederholen. «Hört nicht auf die Worte der Regierenden», hiess es in der Erklärung. «Sie haben keines ihrer Versprechen eingelöst.» Das Vertrauen der einheimischen Bevölkerung in das GAP schwindet rasch. Insgesamt 355 000 Personen hatten bisher umgesiedelt werden müssen. Die neu gebauten Siedlungen entsprechen jedoch kaum den Erwartungen. So hat die Siedlung, welche nach dem Bau des Batman- Stausees auf einem Hügel unweit der Stadt Batman für die Bürger des Dorfes Yeni Calar gebaut wurde, keine asphaltierten Strassen, keine Schule, keine Moschee, keine Geschäfte, ja nicht einmal einen Namen. Man kennt das Dorf lediglich als «Katastrophen-Siedlung».
Das GAP konnte bisher auch die hochgesteckten Erwartungen, neue Arbeitsstellen zu schaffen, nicht erfüllen. Der Grossteil der Vertriebenen ist inzwischen in die Grossstädte im Westen der Türkei abgewandert. Ein rund 60-jähriger Bauer aus dem wegen seiner grünen Gärten berühmten Dorf Kesmetköprü am Ufer des Tigris ist gegen den Bau des Ilisu-Staudammes. An dem Ort, wo die vom Regierungschef versprochene neue Stadt entstehen solle, gebe es kein Kulturland, sagt er. «Was sollen wir dort tun?», fragt er die Besucher aus dem Ausland.
«Wir müssen den Bau des Staudamms stoppen, sonst wird unsere Stadt zerstört», sagt auch der 44-jährige Bürgermeister Kusen entschlossen. Die Monumente seien ein kulturelles Welterbe, das nicht verlorengehen dürfe. Auch er lehnt die im GAP vorgesehenen grossen Staudämme ab. Wissenschafter gäben dem Ilisu-Damm eine Lebensdauer von 50 Jahren, sagt er. «Ist es sinnvoll, dafür eine tausendjährige Geschichte zu opfern?» Bürgermeister Kusen bevorzugt kleinere Projekte, welche die Natur und das historische Erbe der Region respektierten. Nur so könne der Kulturtourismus in der Region gefördert werden. In einem letzten Versuch, das Projekt zu stoppen, haben die Gegner eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht.

Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
Abdulkadir Gündem von der Handels- und Industriekammer des weiter westlich gelegenen Regionalzentrums Batman zählt zu den Befürwortern des Ilisu-Staudamms. Wenn es nach ihm ginge, würde er den Bau lieber heute als morgen fertigstellen, sagt er. Denn die Arbeitslosigkeit sei das grösste Problem der Region. «Rund 90 Prozent der 3800 Einwohner von Hasankeyf sind gegenwärtig arbeitslos», erläutert er. Durch das 1,2 Milliarden Dollar teure Projekt würden zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen. Tausende von Touristen könnten in diese vergessene Region gelockt werden und Batman, ähnlich wie der in der Nähe des Atatürk-Staudamms gelegenen Stadt Urfa, zu einem Aufschwung verhelfen. Batman habe Investitionen dringend nötig. Schon die Entschädigungssummen für das im Zusammenhang mit dem Bau des Ilisu-Staudammes enteignete Land könnten eine Finanzspritze sein und die befürchteten sozialen Unruhen abwenden.
Batman war bis zum Ende der achtziger Jahre eine Provinzstadt von rund 80 000 Einwohnern. Der Krieg zwischen den türkischen Sicherheitskräften und den kurdischen Aufständischen und der daraufhin folgende Strom der Binnenflüchtlinge liessen die Einwohnerzahl der Stadt auf 400 000 anschwellen. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen wird in der Region auf höchstens 1500 Dollar geschätzt. In den Ghettos der Flüchtlinge, wo die Arbeits- und Hoffnungslosigkeit besonders gross sind, nimmt der Einfluss von islamistischen Extremisten in letzter Zeit rapid zu.´

Entscheidung im fernen Westeuropa
Noch windet sich der angeblich vom Erzengel Daniel gezeichnete Fluss wie in den Jahrtausenden zuvor ungehindert durch das ostanatolische Hochland und strahlt eine biblische Ruhe aus. Ein Storch schlägt seine Flügel aus und fliegt von seinem Nest auf der Spitze des Minaretts der Rizk- Moschee in Richtung Süden. Aus einem am Ufer des Tigris gebauten Fisch-Restaurant ertönt ein Lied des populären kurdischen Sängers Abdullah Tatlises. Die Entscheidung darüber, ob die Bewohner von Hasankeyf ihr bisheriges Leben fortsetzen können, fällt im fernen Westeuropa. Das Konsortium, das den Ilisu-Staudamm bauen soll und sich aus deutschen, österreichischen und schweizerischen Firmen zusammensetzt, hat Exportrisikogarantien beantragt. Die Regierungen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sollen nun entscheiden, ob sie diese gewähren und damit den wirklichen Grundstein für den Ilisu-Staudamm legen wollen.