Neue Zürcher Zeitung , 27.09.2006

Ein Kulturerbe der Südosttürkei in Gefahr

Der Bau des Ilisu-Staudamms bedroht das historische Hasankeyf

Der Bau des Ilisu-Staudamms in der Südosttürkei droht Teile des historischen Hasankeyf und dessen Umgebung am Tigris zu zerstören. Ein Teil der Bauten soll in einem archäologischen Park nahe dem künftigen Stausee wieder aufgebaut werden.


Von Deniz Beyazit*

Anfang August 2006 hat der türkische Premierminister Tayyip Erdogan den Grundstein zum Bau des Ilisu-Staudammes im Südosten der Türkei gelegt. Dies dürfte mehr als siebzig Dörfer unter Wasser setzen, darunter auch die historische Stätte Hasankeyf mit ihrer romantischen Landschaft, mit mehrere tausend Jahre alten Höhlen, Resten einer römischen Garnison, syrisch-orthodoxen Kirchen und Bauten aus dem Mittelalter, als Hasankeyf unter islamischer Herrschaft eines der wichtigsten Zentren Hochmesopotamiens war.


Reiche Provinzstadt an der Seidenstrasse

Hasankeyf befindet sich im Hinterland der Südosttürkei, nahe dem Gebiet, wo der Tigris der syrischen Grenze entlang und danach weiter in den Irak fliesst. Die historische Wichtigkeit des Ortes liegt in der strategischen Position: Ein Felsenplateau erhebt sich beinahe senkrecht etwa 100 Meter über den Ufern des Tigris und dominiert die Landschaft. Im Mittelalter kontrollierte Hisn Kayfa («Felsen-Festung», davon abgeleitet Hasankeyf) die Hauptroute der Seidenstrasse entlang des Tigris von Diyarbakir nach Mosul, also von der historischen Stadt Amida ins Zentrum Hochmesopotamiens. Gleichzeitig verteidigte es den Zugang zum südlich gelegenen Tur Abdin, einem hauptsächlich syrisch-orthodoxen, christlichen Gebiet und Hauptlieferanten der landwirtschaftlichen Produkte für Hasankeyf.

Hisn Kayfa breitet sich auf einer Fläche von ungefähr 3,5 Quadratkilometern aus. Auf dem Felsenplateau steht eine Hochburg, mit Festung, Palastanlage sowie einer grossen und mehreren kleinen Moscheen, Kirchen und einem Kanalsystem, mit dem frisches Wasser aus dem gebirgigen Tur Abdin hergeführt wurde. Gewisse Bauten und Anlagen sind in Steinhöhlen geschlagen. Ein Grossteil der Monumente verteilt sich in der Ebene beidseits des Tigris, dessen Ufer durch eine 250 Meter lange, dieser Tage nur mehr aus Überresten bestehenden Brücke verbunden waren. Quellen beschreiben einen Holzeinlass in der Brückenmitte, mit dem bei Gefahr der Übergang verhindert werden konnte.

Neben einem Stadtzentrum mit einem Platz (Maydan), mit Moscheen, Schulen (Madrasen), Mausoleen sowie Märkten, Herbergen (Han) und Bädern (Hamam) hatte Hisn Kayfa auch abgelegene Quartiere, wie zum Beispiel ein Töpferzentrum. Weiter östlich lagen fürstliche Paläste am Tigrisufer und reich geschmückte Gartenpavillons (Kösk) mit Brunnen. Wie auf dem Plateau gibt es auch hier mit Malereien ausgestattete Höhlen, die als Moscheen oder als Kirchen dienten.

Die vor Jahrhunderten lebendige und farbenfrohe Stadt ist heute nichts als ein riesiges Feld verlassener Bauten und Ruinen. Erhaltene Teile der Monumente und Grabungsfunde aus deren Umgebung deuten auf ein variiertes, qualitativ hochstehendes Handwerk und technisch weit entwickeltes Wissen zurück. Neben komplizierten Mustern auf Stein oder Stuckpaneelen - anknüpfend an syrische, anatolische und iranische Traditionen -, die Minarette, Eingangsportale, Nischen oder Kuppeln schmücken, sei vor allem auf die Vielfalt der Glasurtechniken und Keramikformen hingewiesen. In Hasankeyf wurden Imitationen von Modellen der damaligen wichtigen Herstellungszentren von China bis Westanatolien mit aufwendigen und teuren Glasuren und Verarbeitungsprozessen hergestellt. An der Seidenstrasse gelegen, trafen hier Stile und Ideen aus allen Himmelsrichtungen zusammen.


Archäologischer Park am Stauseerand

Sollte der Ilisu-Staudamm trotz regionalem, aber auch internationalem Widerstand realisiert werden, würde Hasankeyf unter den Seespiegel zu liegen kommen. Nur das hoch über die Stadt hinausragende Felsenplateau bliebe verschont. Die Möglichkeit, den Seespiegel weniger hoch (479 Meter über Meer) als geplant (510 Meter über Meer) steigen zu lassen und so Hasankeyf nicht unter Wasser zu setzen, stösst wegen der geringeren Energieeinnahmen (jährlich 260 statt 300 Millionen Dollar) bei den Verantwortlichen auf taube Ohren. Die wichtigsten Denkmäler sollen in einen archäologischen Park umgesiedelt werden, wofür 100 Millionen Euro (25 Millionen Euro vom Staudamm-Konsortium und 75 Millionen Euro von der Türkei) eingesetzt werden.

Beim Vergleichsbeispiel von Abu Simbel waren in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts über 40 Millionen Dollar aufgebracht worden, um ein in den Fels gehauenes Monument Stück für Stück abzutragen und an einem sicheren Ort wieder aufzubauen. Im Falle von Hasankeyf handelt es sich um eine Stadt, in der mehr als ein Dutzend Monumente von grösster historischer Wichtigkeit sind. Die Bauten bestehen vorwiegend aus kleinen Hausteinen, kleineren und grösseren Bruchsteinen, Mörtel, Holz und Ziegeln. Sichtbare Partien konnten mit polychromen Kacheln verkleidet, Nischen und Kuppeln mit aufwendigen Stuckarbeiten ausgeschmückt sein.

Wegen des unstabilen Zustands vieler Bauten besteht beim Zerlegen in transportierbare Einzelteile grosse Einsturzgefahr. Im Urteil des ehemaligen Grabungsleiters, Olus Arik, käme lediglich ein Zwanzigstel der gesamten Bausubstanz für eine Umsiedlung in Frage. Darin enthalten sind vor allem einzelne Teile der Monumente wie Eingangsportale, Minarette oder Stuckpaneele. Als Resultat ergäbe sich ein archäologischer Park mit neu gebauten Monumenten, wohl aus altem Material und in altem Stil, aber herausgerissen aus ihrem ursprünglichen Kontext.

Der Besucher hätte so sicher die Möglichkeit, einen Überblick über die Chefs d'Œuvres von Hasankeyf zu erhalten. Es lässt sich jedoch diskutieren, ob statt eines so teuren und technisch aufwendigen Verfahrens nicht eher die laufenden Rettungsgrabungen verstärkt und die Stätte ausführlich dokumentiert werden sollte.

* Die Autorin doktoriert an der Sorbonne in islamischer Kunstgeschichte und Archäologie. Zurzeit forscht sie zu islamischer Architektur des Mittelalters der Südosttürkei in den Städten Diyarbakir, Hasankeyf und Mardin.