Zeit-Fragen (CH) , 21.08.2006

Der Ilisu-Staudamm – «kein vernünftiges Projekt»

von Dieter Sprock und Roland Meyer, Schweiz

Der Ilisu-Staudamm ist Teil eines der weltweit grössten Bewässerungs- und Wasserkraftwerk-Projekte. Das als GAP (Güneydogu Anadolu Projesi) bekannte Südostanatolien-Projekt umfasst 22 Staudämme, 19 Wasserkraftwerke und Dutzende von Bewässerungsanlagen; die Hälfte ist bereits gebaut. Es erstreckt sich im türkischen Teil des Beckens zwischen Euphrat und Tigris entlang der syrischen und der irakischen Grenze über ein Gebiet von 75 000 km2, im äussersten Südosten der Türkei. Die Schweiz bedeckt im Vergleich eine Fläche von 41 000 km2.1 Das GAP liegt in kurdischem Gebiet. In bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Regierung und der einheimischen kurdischen Bevölkerung wurden in den 80er und 90er Jahren mehr als 3 Millionen Menschen vertrieben, ihre Dörfer (gegen 4000) niedergebrannt und zerstört und ganze Landstriche entvölkert.
Mit der Bewässerung von 1,7 Millionen Hektar Land soll im GAP-Gebiet die bisher für den Eigengebrauch bestimmte Landwirtschaft in eine exportorientierte Agrarindustrie umgewandelt werden. Nach den Plänen der Regierung wird die Region zu einer der 4 grössten Baumwollanbauflächen der Welt.2 Auch die Energieproduktion soll vor allem der Exportwirtschaft dienen.
Nach Schätzungen – verlässliche Zahlen gibt es nicht – verloren durch die bisher gebauten Staudämme über hunderttausend mehrheitlich kurdische Familien ihre Existenzgrundlage und die Möglichkeit zur selbständigen Existenzsicherung. Eine grosse Anzahl archäologisch bedeutender Städte wurde zerstört. Beim Bau des Ilisu-Staudamms würden weitere 55 000 Menschen aus ihrer angestammten Heimat vertrieben. Viele Kurden verurteilen ihre Vertreibung und die Überflutung ihres kulturellen Erbes als eine Form ethnischer Säuberung.
Wasser als Waffe

Neben innertürkischen Konflikten bedroht das GAP die Anrainerstaaten Syrien und den Irak. Die Türkei verfügt über wesentlich mehr Wasser, als sie benötigt. Die Anrainerstaaten, die auf das Flusswasser von Euphrat und Tigris angewiesen sind, leiden unter Wassermangel. Mit den Staudämmen des GAP besitzt die Türkei die Kontrolle über das Wasser der beiden Flüsse, sie kann die Abflussmenge begrenzen: «Während des Golf-Krieges von 1991 reduzierte die Türkei zum Beispiel den Wasserzufluss zum Irak. In Syrien kam es schon zur Rationierung von Trinkwasser, da der Abfluss des Euphrat durch die bisher fertiggestellten Dämme des GAP um fast die Hälfte gesunken ist. Wiederholt drohte die Türkei Syrien mit dem Stauen des Wassers, sollte Syrien der PKK weiterhin Zuflucht gewähren.»3
«Die Türkei hat weder Syrien noch den Irak detailliert über ihr Vorhaben (das GAP) informiert, geschweige denn im Planungsprozess konsultiert. Nach internationalem Recht sind die detaillierten Vorabinformation und Konsultation flussabwärts gelegener Staaten aber grundlegende Prinzipien für Projekte an grenzüberschreitenden Flüssen. Sie sind als festes Gewohnheitsrecht zu betrachten, […].»4 Die Türkei lehnt die Unterzeichung der UN-Konvention über die nicht-schiffbare Nutzung grenzüberschreitender Wasserwege ab. Sie beharrt darauf, als Quellland der Flüsse über das Wasser verfügen zu können. Syrien wird in der Zukunft noch wesentlich mehr Wasser benötigen, was jedoch bisher von der Türkei nicht zugestanden wurde. Im Irak sieht die Situation nicht besser aus. Auch hier ist ohne Verbesserung der Lage ein Konflikt unvermeidbar.
Die türkische Politik gegenüber Syrien und dem Irak entspricht den geostrategischen Interessen der USA in der Region. Die Türkei hat sich als Nato-Mitglied am Irak-Krieg beteiligt. Und ein Militärabkommen mit Israel vom Februar 1996 macht sie zum Partner des israelisch-amerikanischen Bündnisses gegen den Iran.
2002 – erster Bauversuch scheitert

Mit dem Bau des Ilisu-Staudammes würden die Konflikte um die Wassernutzung im Becken von Euphrat und Tigris eine neue Dimension erreichen, denn mit jedem neuen Staudamm erhöht die Türkei ihre Kontrolle über die Abflussmengen von Euphrat und Tigris. Nach Fertigstellung aller Projekte könnte sie Syrien und dem Irak das Wasser buchstäblich abdrehen.
Bereits seit den 50er Jahren verfolgt die türkische Regierung den Plan, mit dem Ilisu-Wasserkraftwerk einen der grössten Staudämme der Türkei zu errichten; die beiden grösseren, der Atatürk- und der Karakaya-Damm, sind bereits in Betrieb.
Ein erster Bauversuch scheiterte. 2002 zogen sich die UBS als Geldgeber und die Unternehmen aus der Schweiz, den USA, Grossbritannien, Schweden, Deutschland, Japan, Österreich, Italien und Portugal zurück. Was war passiert? Eine breite Koalition von Nichtregierungsorganisationen, darunter auch die Erklärung von Bern, hatte Gutachten erstellen lassen, die aufdeckten, dass das Projekt die relevanten Standards der Weltbank und der OECD bei weitem nicht erfüllte und zu schwerwiegenden ökologischen Schäden, Menschenrechtsverletzungen und einer Verschärfung des Wasserkonflikts in Nahost beitragen würde. Sie informierten die entsprechen Minister, die Exportkreditagenturen und die Öffentlichkeit und ereichten den Rückzug der Unternehmen.
2005 – ein neuer Anlauf

Die türkische Regierung hat ihre Pläne für den Bau des Ilisu-Staudamms jedoch nie aufgegeben. Seit Anfang 2005 verhandelt sie mit einem neuen Konsortium über die endgültige Realisierung des Projekts. Federführend ist der österreichische Konzern VA-Tech, der schon beim ersten Versuch beteiligt war. Die Schweizer Firmen Alstom (früher ABB Power Generation, ebenfalls bereits beim ersten Versuch beteiligt), Colenco, Stucki und Maggia erwarten Aufträge in der Höhe von 170 Millionen Franken. Nach Auskunft des Alstom Konzerns steuerte das Baukonsortium 25 Millionen Euro für die Erstellung einer Umwelt- und einer Umsiedlungsprüfung bei, um so die notwendigen Export­risikogarantien zu bekommen. Das lässt erahnen, welche Gewinne erwartet werden.5 Der Auftragswert für den gesamten Bau des Ilisu-Staudamms beläuft sich auf 1,5 bis 2 Milliarden US-Dollar.
Grundsteinlegung

Mit der Grundsteinlegung am 5. August versucht die türkische Regierung Fakten zu schaffen. Am gleichen Tag protestierten 8000 Bürger der betroffenen Region gegen das Projekt.
Entgegen anderslautenden Meldungen steht die Finanzierung des Projekts noch keineswegs. Die Exportkreditagenturen Deutschlands, Östereichs und der Schweiz haben bisher noch keine Garantien gesprochen.
Spuren führen nach Washington DC

Der VA-Tech-Konzern wurde 2005 von Siemens übernommen. Auf Grund wettbewerbsrechtlicher Bedenken der EU-Kommission musste Siemens VA-Tech Hydro wieder verkaufen.6 Im Frühjahr 2006 wurde die Andritz AG aus Graz neuer Eigentümer von VA-Tech Hydro. Andritz wiederum ist seit 1999 Teil der Carlyle-Group, die als global tätige Investmentgesellschaft vor allem im Rüstungs- und Ölgeschäft tätig ist und deren Spuren direkt nach Washington DC führen. Beim Kauf der VA-Tech Hydro durch die Andritz/Carlyle-Group war der Bau des Ilisu-Staudamms im Übernahmepaket enthalten.
Eine türkische Delegation in der Schweiz

Die Erklärung von Bern, EvB, vertreten durch Christine Eberlein, hat am 15. Mai zu einer Medien- und Informationsveranstaltung mit einer Delegation von Bürgermeistern und Vertretern von Bürgerinitiativen aus der Ilisu-Region nach Bern eingeladen. Die Delegation war in die Schweiz gekommen, um sich hier mit Regierungsvertretern, Parlamentariern und Exponenten der Exportrisikogarantie zu treffen und die Öffentlichkeit über die Probleme des Staudammprojekts zu informieren. Zur Delegation gehörten: Yurdusev Özsökmenler, die Distriktbürgermeisterin von Diyarbakir. Als Anthropologin beschäftigte sie sich intensiv mit der Kultur ihrer Gegend. Früher war sie auch journalistisch tätig. Der Bürgermeister von Batman, Hüseyin Kalkan. Der Ilisu-Stausee würde bis einen Kilometer an die Stadt Batman heranreichen. Necattin Pirinccioglu, Architekt, Generalsekretär der Agenda 21 und im Vorstand der Hasankeyf-Initiative. Und Ercan Ayboga, ebenfalls im Vorstand der Initiative zur Rettung von ­Hasankeyf.
Mehrere Gutachten lagen auf, welche die Erklärung von Bern gemeinsam mit der internationalen Ilisu-Kampagne über die Umwelt- und Umsiedlungsstudien des Baukonsortiums in Auftrag gegeben hatte: eines zur Umsiedlung vom führenden Weltbank-Experten, Professor Michael Cernea, ein weiteres zur Hydrologie und Wasserqualität von der ETH-Wasserforschungsanstalt eawag unter der Leitung von Professor Alfred Wüest und Dr. Cristian Teodoru, eine hydrologische und geomorphologische Studie, erstellt von Phil Williams & Associates, Ltd. (PWA) in San Francisco, und eine archäologische Stellungnahme.
Gutachter raten von Finanzierung ab

Alle Gutachten decken gravierende Mängel bei den beiden projektseitigen Studien auf: Ein Management- und Kostenplan für die Umsiedlung fehlt, die Menschen vor Ort sind nicht in die Planung einbezogen worden, wie es internationalen Standards entspricht. Die eawag bemängelt die Berechnungen zur Sedimentierung (Ablagerung) und Eutrophierung (Überdüngung), sie kommt zu ganz anderen Daten. Kläranlagen fehlen. Das Wasser des Stausees werde nicht trinkbar sein, und ein Fischsterben müsse befürchtet werden. Ausserdem fehlen Abkommen mit den Anrainerländern Syrien und Irak, und die Türkei weigert sich, über Verträge zu verhandeln. Da die Realisierung des Staudamms gravierende soziale und ökologische Folgen für Mensch und Umwelt hätte, raten die Gutachter dringend von einer Finanzierung ab.
Was uns die Menschen aus Ostanatolien zu sagen haben

Soziale Probleme in den Städten
Die beiden Grossstädte der Region, Diyarbakir und Batman, leiden bereits heute unter der grossen Zahl von Flüchtlingen aus den Bürgerkriegen der 80er und 90er Jahre. Die Einwohnerzahl von Diyarbakir erhöhte sich in diesem Zeitraum von 300 000 auf über 1 000 000. Batman war vor 50 bis 60 Jahren ein Dorf. Dann wurde Öl gefunden, und mit der Petroleum­industrie entwickelte sich Batman zur Stadt mit heute gegen 300 000 Einwohnern. Die kommunalen Einrichtungen wie das Finanz- und Gesundheitswesen oder auch die Stadtplanung sind in beiden Städten völlig überfordert.
Viele Menschen, die vertrieben wurden, konnten sich nicht integrieren. Sie leiden unter sozialen, kulturellen und seelischen Schwierigkeiten. In Diyarbakir haben 90% der Frauen und 65% der Männer keine Arbeit. Sie leben von Sozialhilfe unter der Armutsgrenze. Frauen, die vom Lande kamen, müssen jetzt in «vier Wänden», in Apartments, leben. Sie können sich kaum frei bewegen, wie sie es gewohnt waren. Viele begehen Selbstmord. Die Selbstmordrate ist in beiden Städten sehr hoch.

Kinder schliessen sich Strassengangs an
«Wir haben Schulen, die bis zu fünf-, sechstausend Kinder haben. In solchen Schulen ist eine gute Bildung fast nicht möglich, deshalb schliessen sich viele Kinder Strassengangs an. Die Strassenkriminalität ist hoch. Das sind keine übertriebenen Zahlen. Zwei Schulen, die nebeneinander liegen, haben fünf bis sechstausend Schüler, das entspricht schon einer kleinen Stadt. Mit der Staudamm-Umsiedlung würden wir mit noch grösseren Problemen konfrontiert», sagt die Bürgermeisterin von Diyarbakir.

Zerstörung des Kulturerbes geht die ganze Menschheit an
37 750 Hektar archäologisch unerschlossenes wertvolles Land würden vom Ilisu-Staudamm überflutet. Die Projektregion befindet sich in Obermesopotamien, im fruchtbaren Halbmond. Sie war für die Herausbildung der Kulturen und Hochkulturen sehr wichtig. «In nur 7000 Hektaren wurden bisher archäologische Ausgrabungen durchgeführt und 208 Ausgrabungsstätten gefunden. Mit jeder neuen Ausgrabung kommen ganz neue Entdeckungen ans Tageslicht, die sehr wichtig für die gesamte Menschheit sind. Wir wissen eigentlich gar nicht, was in der Region noch alles liegt, weil es noch vergraben ist. Dieses kulturelle Erbe ist nicht nur für die Türken und Kurden wichtig, es geht die ganze Menschheit an. Hier lebten wichtige Kulturen, Religionen und Völker.», erklärt Yurdusev Özsökmenler.

«Hasankeyf lässt sich nicht auf wenige Monumente begrenzen»
Hasankeyf ist eine historische Stadt. Die Geschichte der Region reicht bis zu 10 000 Jahre zurück. Die Stadt wurde 1978 unter Denkmalschutz gestellt, ein Denkmalschutz erster Priorität. «Doch», so der Architekt aus Ostanatolien, «Hasankeyf lässt sich nicht auf wenige Monumente begrenzen. Es gibt mehrere tausend Höhlen, Paläste, eine Felsenburg, mehrere Kirchen, Bilder, Residenzen, private Wohnungen und andere Gebäude von Wert. Vieles liegt auch noch unter der Erde. Wie von den Bürgermeistern erwähnt, sind mindestens 200 archäologische Fundstätten noch gar nicht ausgegraben. Dann gibt es noch eine spezifische menschliche Kultur, welche die Menschen vor Ort praktizieren, die nicht materiell erfasst werden kann. Diese wird durch die Umsiedlungen auch zerstört, weil diese Kultur woanders nicht weiterexistieren kann.»

Initiative zur Rettung von Hasankeyf
Im Januar dieses Jahres hat sich vor Ort eine grosse Initiative zur Rettung von Hasankeyf gebildet. In ihr sind 34 Organisationen vereinigt: die Kommunen, die regionale Ingenieur- und Architektenkammer, mehrere Umwelt- und Menschenrechtsgruppen; jeder Bereich der Gesellschaft ist vertreten. Die Initiative will den Bau des Staudamms verhindern und als Alternative den lokalen Tourismus fördern, mit Hasankeyf als Zentrum.

Standort und Notwendigkeit des Staudamms fraglich
Nach Aussage des Architekten Necattin Pirinccioglu stellen verschiedene Experten den Standort und die Notwendigkeit des Staudamms in Frage. Momentan betrage der Verlust von Energie in Transportleitungen etwa 21%. Der internationale Standart für Übertragungsverluste läge jedoch bei etwa 8 bis 10%. Wenn der Verlust von 21% auf 10% gesenkt werden könnte, würde der Energie­gewinn etwa der Leistung von drei Ilisu-Staudämmen entsprechen.
Ausserdem würde der Atatürk-Staudamm lediglich mit einer Kapazität von 48% betrieben, der zweitgrösste Staudamm, Karakya, mit 52%. Wenn beide mit einer höheren Kapazität betrieben würden, könnten sie den Strombedarf der Türkei über Jahre decken.
Das Ilisu-Kraftwerk würde auch nur mit maximal 50% betrieben. Es würde gerade mal 1200 Megawatt von insgesamt 37 500 Megawatt produzieren, und das maximal 50 bis 60 Jahre. Das 12 000 Jahre alte kulturelle Erbe hingegen sei unwiederbringlich ­verloren, zudem würden 55 000 Menschen vertrieben. «Das ist kein vernünftiges ­Projekt. Aus kultureller, sozialer, ökonomischer und technischer Sicht ist das kein vernünftiges Projekt!»

Kultur und Geschichte nicht strategischen Zielen opfern
Yurdusev Özsökmenler, die Bürgermeisterin von Diyarbakir, kommt noch auf einen anderen Punkt zu sprechen und endet mit einem eindringlichen Appell an die Anwesenden: «Das Wasser wird im mittleren Osten immer wichtiger, es kann und wird als Waffe eingesetzt werden. Wenn wir uns vor Augen führen, dass der Ilisu-Staudamm wirtschaftlich kein vernünftiges Projekt ist, müssen wir daraus schliessen, dass die Regierung diesen Staudamm als Waffe einsetzen möchte. Auch wenn sie dies nicht sofort tut, dient der Staudamm als Drohpotential. Wir können die Kultur und die Geschichte der Menschen doch nicht den Waffen und den strategischen Interessen und Kriegen opfern!
Sie sehen hier einige Photos von Hasankeyf. Wenn sie einmal in diese wunderbare Stadt kommen und sie sich ansehen, werden Sie uns noch besser verstehen. Wir möchten Sie dazu herzlich einladen. Wir sind sicher, dass Sie sich dann mindesten genauso wie wir für den Erhalt des historischen Erbes einsetzen werden.
Ihnen obliegt nach unserer Meinung die Aufgabe, dieses Thema in die Medien zu tragen und darzustellen, welches kulturelle Erbe, welche Geschichte da verlorengeht. Wir dürfen das nicht zulassen und müssen unsere Bemühungen in diese Richtung fortsetzen. Wir möchten dieses Staudammprojekt noch einmal, zum letzten Mal, stoppen. Vor vier Jahren stiegen schwedische und britische Unternehmen aus, und das Projekt stoppte, und jetzt möchten wir es noch einmal, und zwar endgültig stoppen. Ich möchte daran glauben, dass sich die Schweiz nicht an der Zerstörung dieser Kultur beteiligt. Die Schweiz ist doch kulturell ein fortschrittliches Land. Ich danke für Ihr Verständnis.»
Die Bevölkerung will den Staudamm nicht

Kein Zweifel, die Mehrheit der betroffenen Bevölkerung will den Staudamm nicht, ebensowenig wie wissenschaftliche Kreise, Archäologen, Architekten und Ingenieure. Er soll gegen den Willen der Bevölkerung gebaut werden.
Befürworter finden sich unter den Grossgrundbesitzern und Spekulanten, die sich von den Abfindungen ein gutes Geschäft versprechen. Auch die regierungsnahe Mediengruppe Dogan macht sich für das Projekt stark. Sie nimmt mit drei grossen Tageszeitungen – «Posta», «Hürriyet» und «Milliyet» – und zwei Fernsehkanälen – Kanal D und CNN Türk – eine überragende Stellung in der türkischen Medienlandschaft ein. Die Aydin Dogan Holding ist ausserdem in der Finanz-, Versicherungs-, Tourismus-, Industrie- und Energiebranche tätig.
500 weitere Talsperren sind geplant. Die schweizerischen, deutschen und österreichischen Unternehmen, die neben dem türkischen Bauunternehmergiganten Nurol beim Bau der Staudämme federführend sind, erwartet ein lukratives Geschäft. Dem Ilisu-Staudamm kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Wird er gebaut, können andere Talsperren an den Nebenläufen des Tigris auch realisiert werden.
Exportkreditagenturen entscheiden
Wie es mit dem Projekt weitergeht, hängt in hohem Masse davon ab, wie die Exportkredit­agenturen der beteiligten Länder in den nächsten Wochen entscheiden. Verweigern diese dem Projekt ihre Zustimmung, kann es kaum realisiert werden. 1998 hat die schweizerische Exportrisikogarantie als erste eine staatliche Bürgschaft zugesagt, obwohl bekannt war, dass der Ilisu-Staudamm zu schwerwiegenden ökologischen Schäden, Menschenrechtsverletzungen und einer Verschärfung des Wasserkonflikts in Nahost führen würde. Der Bundesrat erhält nun eine neue Chance. Er sollte die Gelegenheit nutzen und beweisen, dass die Schweiz zu Recht ein «kulturell fortschrittliches Land» genannt wird, indem er diesmal die Export­risikogarantie verweigert. •

1 Im Schatten der Dämme, Kontroverse Wasserkraftwerke in der Türkei, Erklärung von Bern, S. 10–11
2 ebenda, S. 10
3 WEED-Hintergrundpapier: Hermesbürgschaften und der Ilisu-Staudamm, S. 1 www.weed-online.org/themen/hermes
4 ebenda, S. 2
5 www.weed-online.org/themen/hermes, S. 22
6 WEED-Hintergrundpapier: Hermesbürgschaften und der Ilisu-Staudamm, S. 21 www.weed-online.org/themen/hermes

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Wasser – Konfliktstoff des 21. Jahrhunderts

ds. «Ohne Wasser gibt es kein Leben. Alles Leben auf der Erde ist abhängig vom Wasserkreislauf. Der Umgang mit Wasser, seine Erschliessung, seine Verteilung und Nutzung haben die Geschichte der menschlichen Zivilisation und das Gesicht der Erde geprägt. Wasser ist durch nichts ersetzbar», schreibt Helvetas Schweiz1 Zwar sind 70% der Erdoberfläche von Wasser bedeckt, doch nur 2,6% davon sind Süsswasser, und von diesen ist nur ein Bruchteil für die menschliche Nutzung verfügbar. Zunehmender Verbrauch und zunehmende Verschmutzung reduzieren das Angebot, und gleichzeitig steigert eine wachsende Weltbevölkerung die Nachfrage stetig.
Ungleiche Verteilung – Wasserschlösser und Wassermangel

Die Wasserressourcen sind ungleich verteilt. Während in einigen Regionen das Wasser heute noch im Überfluss fliesst, leiden andere unter Wassermangel. Die Schweiz verfügt mit den Alpen über das Wasserschloss Europas, was sie nicht zuletzt für die EU besonders attraktiv macht. Andere wichtige Wasserschlösser sind die Rocky Mountains in Nordamerika, die Anden in Südamerika, der Hindukusch und der Himalaya in Südasien und in Westasien das Hochland von Anatolien mit den Quellen von Euphrat und Tigris.
Im Nahen Osten, in Nordafrika, in der Sahelzone und im südlichen Afrika, aber auch in einigen Regionen Süd- und Zentralasiens herrschen akuter Wassermangel. Bereits heute verfügen 1,4 Milliarden Menschen – mehr als ein Fünftel der Weltbevölkerung – ständig über zuwenig oder zuwenig sauberes Trinkwasser. 7 Millionen Menschen sterben jährlich an den Folgen von unreinem Wasser.
1990 schrieb der Bundesrat in seinem Bericht zur schweizerischen Sicherheitspolitik: «Bereits heute leidet fast die Hälfte der Weltbevölkerung unter akuter Wasserknappheit, und es wird zwangsläufig zu einer wachsenden Verteilungskonkurrenz um dieses lebensnotwendige Gut kommen.» Der ehemalige Uno-Generalsekretär Boutros-Ghali prophezeite 1991, dass die Kriege der Zukunft um Wasser geführt würden.2
Krieg um Wasser

Krieg um Wasser ist jedoch längst kein Horrorszenario für die Zukunft mehr, sondern Teil des Globalisierungskrieges um die Weltherrschaft: International agierende Konzerne wittern in der Beherrschung der Wasservorkommen der Erde ein lukratives Geschäft und versuchen die Kontrolle über die Grundlage des Lebens an sich zu reissen. Wasser soll nicht länger Eigentum des Gemeinwesens sein und jedem Menschen als Menschenrecht zur Verfügung stehen, sondern zum Handelsgut werden, das von privaten Firmen kontrolliert und verkauft wird. Grosskonzerne greifen mit Unterstützung der Weltbank und der Welthandelsorganisation (WTO) nach den Trinkwasserquellen der Erde, sichern sich die Rechte für eine intensive Ausbeutung der Flüsse und Seen und buhlen um die staatlichen und kommunalen Wassermonopole, um auch die Wasserversorgung und -aufbereitung den Gesetzen der Marktwirtschaft zu unterwerfen und hohe Gewinne herauszuschlagen.
Die Genfer Bank Pictet lancierte 2000 einen «water fund» mit der Begründung, «dass die steigende Nachfrage nach Wasser […] eine überdurchschnittliche Entwicklung in diesem Sektor erwarten» lasse. Die Gentech- und Saatgutfirma Monsanto erkennt in der Wasserkrise ihre Chance und schreibt in einem Strategiepapier: «[…] wir werden durch unsere Geschäftsaktivitäten gut positioniert sein, um davon sogar noch besser zu profitieren, wenn die Krise eintritt.» Und Nestlé, die Nummer eins im Mineralwassermarkt, reagiert auf den Mangel an sauberem Wasser mit der Lancierung des Flaschenwassers «Pure Life». Der Jahresumsatz auf dem Wassermarkt wird im nächsten Jahrzehnt auf 500 Milliarden Dollar geschätzt.3
Geostrategische Aspekte

Der Krieg um Wasser beschränkt sich nicht auf den Handel mit Wasser. Immer mehr Länder, die über Quellen grenzüberschreitender grosser Flüsse oder Seen verfügen, missbrauchen dieses Privileg für geostrategische Zwecke. Sie setzen Wasser als Waffe ein, um politische und wirtschaftliche Forderungen gegenüber Anrainerstaaten durchzusetzen. Einige besonders krisenanfällige Regionen sind die grossen Seen in Zentralafrika, das Einzugsgebiet des Nils, das Mündungsgebiet des Ganges, das Mekong-delta in Indochina oder im nahen Osten der Jordan und das Becken von Euphrat und Tigris, das Wasserschloss der Türkei.

1 Wasser, Süd-Magazin 10/2000, www.helvetas.ch/global/pdf/topic/wasser/0209/suedmagazin
2 ebenda
3 ebenda

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Exportkredit­agenturen

In der Schweiz wird sie Exportrisiko­garantie (ERG) genannt. Sie versichert Exporte privater Firmen in politisch und wirtschaftlich unsichere Länder. Sie ist für Grossprojekte in unsichere Regionen unerlässlich, denn ohne Exportrisiko­garantie übernimmt keine Bank die Finanzierung. Ist eine solche Garantie gesprochen, deckt der Staat im Fall des Scheiterns, etwa durch Umweltkatastrophen, Kriege oder Aufstände, den entstandenen Schaden mit Steuergeldern!
In Deutschland heisst die Garantie Hermesbürgschaft und in Österreich Exportversicherung. Die Vergabe einer solchen Garantie ist für die Grossbanken ein Gütekriterium.

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Carlyle-Group

Die Carlyle-Group ist eine global tätige Investmentgesellschaft mit Sitz in Washington DC. Sie wurde 1987 mit einem Kapital von 5 Millionen Dollar gegründet. Mittlerweile verwaltet sie ein Vermögen von über 30 Milliarden Dollar. Carlyle kauft Beteiligungen an Firmen mit Vorliebe aus dem Rüstungs- und Ölsektor, scheffelt ihnen über ein exklusives Beziehungsnetz lukrative Staatsaufträge zu und verkauft sie dann wieder mit Gewinn. So erwarb die Gruppe zum Beispiel bereits 1992 das private militärische Unternehmen Vinnell, das auf die Schulung von militärischem Personal und nachrichtendienstliche Tätigkeiten spezialisiert ist. Vinnell ist unter anderem in Saudi-Arabien, Ägypten, Katar, Oman, Kuwait und in der Türkei tätig – und seit 2003 auch im Irak mit einem auf 48 Millionen Dollar veranschlagten Auftrag zur Ausbildung der irakischen Armee. (www.gsoa.ch/gsoa/zeitung/124/index.php?id=31).
Im Verwaltungsrat von Carlyle finden sich der ehemalige US-Präsident George Bush sen., Frank Carlucci, vormals US-Verteidigungsminister und stellvertretender Direktor der CIA, James Baker III, vormals Aussen- und Finanzminister, von Präsident George W. Bush im Dezember 2003 zu seinem persönlichen Beauftragten für die Umschuldung des Irak ernannt, John Major, ehemaliger britischer Premierminister, und Fidel Ramos, vormaliger Präsident der Philippinen, Aufsichtsratmitglied von Carlyle-Asia. Der «Guardian» vom 31. Oktober 2001 spricht von einem «Expräsidenten-Club».
Zu den wichtigsten privaten Anlegern der Firma gehören neben George Soros zahlreiche Grossanleger aus Saudi-Arabien und bis Oktober 2001 auch die Familie Usama bin Ladins.
Carlyle ist gewissermassen das Scharnier zwischen privaten Geschäftsinteressen und Investitionen der US-Regierung im Bereich der Verteidigung, der Energieversorgung und der Informationstechnologie. «Die Firma operiert ‹im sogenannten Dreieck von Industrie, Regierung und Militär›, also dem ‹inner circle› des amerikanischen militärisch-politischen Komplexes. Es sind die personellen Verflechtungen im Schnittpunkt dieses Dreiecks, die die gigantischen Wachstumsraten der Firma in weniger als zwei Jahrzehnten erklären. Sie sind das Resultat geradezu einzigartiger enger Beziehungen zwischen Personen wie George Bush, Frank Carlucci oder James Baker III mit dem Pentagon und seinem derzeitigen Chef Donald Rumsfeld, mit Vize-Präsident Dick Cheney und vielen anderen: Firmen, die der Carlyle-Group angehören, erhielten allein im Jahr 2002 Rüstungsaufträge von insgesamt 1,4 Milliarden US-Dollar.»
Quelle: Prof. em. Dr. Werner Ruf, in: Wissenschaft & Frieden 1/2006