Rheinischer Merkur, 17.08.2006

Ankara belebt ein Staudammprojekt, das Tausenden die Existenz raubt

Alles versinkt in den Fluten

BIRGIT CERHA, HASANKEYF

„Es ist ethnische Säuberung, nichts anderes“, und die Welt mache mit. Empört fasst der kurdische Aktivist Karim Yildis die Gefühle zusammen, die Zehntausende Menschen in der südostanatolischen Kurdenregion quälen, seit Ministerpräsident Erdogan Anfang August das auch international umstrittene Ilisu-Staudammprojekt neu belebte. Seither ist tiefe Depression in der Region eingekehrt. 75000 Menschen sind betroffen, bis zu 55000 dürften ihre Lebensbasis verlieren. Doch ernsthaft um ihre Meinung befragt wurden weder sie noch ihre politischen Vertreter. Über die Köpfe der Menschen hinweg entschied die Regierung, ein internationales Konsortium unter Führung der österreichischen VA Tech Hydro mit Schweizer und deutscher Beteiligung, mit dem Bau des zweitgrößten Dammes der Türkei zu beauftragen. Vor vier Jahren hatten sich internationale Unternehmen aus dem Projekt zurückgezogen, weil es nicht internationalen Standards entsprach. Die Grundproblematik besteht unvermindert fort. Die Weltbank verweigert deshalb Unterstützung.
Der 145 Meter hohe Ilisu-Staudamm am Tigris ist das Schlüsselprojekt des GAP (Südostanatolien-Projekt), das – wenn es fertig gestellt ist – 22 Staudämme und 219 Kraftwerke umfassen und bis zu 8000 Kilowatt vor allem in den westtürkischen Energiesektor liefern soll. 300 Quadratkilometer Land sollen bis 2013 in einem Megastausee versinken und mit ihnen 52 Dörfer und 15 Kleinstädte, in denen überwiegend Kurden leben. Tausende Menschen würden neue Arbeit finden, „starker politischer Wille“ werde das Land zum Fortschritt führen. Solch große Worte, die Erdogan bei der Inaugurationsfeier des Projekts verkündete, überzeugen in der Region kaum jemanden.

„Die Kurden sind fest davon überzeugt, die Regierung baue den Damm vor allem, um ihre Kultur und Geschichte in der Region zu zerstören“ und die Menschen aus dem Gebiet zu verjagen, erläutert Yildis. Selbst unabhängige Archäologen sprechen von einer „Massenvernichtungswaffe“ gegen die Kultur. Denn der Stausee wird ein kulturhistorisches Gebiet einzigartiger Schönheit zerstören. Sein Zentrum ist Hasankeyf, ein kleines, 5000 Seelen zählendes Städtchen an den Ufern des Tigris mit einer stolzen Vergangenheit an der Seidenstraße. Archäologische Kostbarkeiten, die sich über Kliffs und Hügel ziehen, reichen bis zu 10000 Jahre zurück. Neun große Kulturen, von den Assyrern bis zu den Osmanen, haben in Hasankeyf ihre Spuren hinterlassen. Moscheen, Burgen, ein Palast aus dem 12.Jahrhundert, eine Zitadelle, eine monumentale Brücke und noch viel mehr zeugen von der großen Geschichte.

In den Kaffeehäusern Hasankeyfs prangen die Bilder von Republikgründer Atatürk. Doch kein Porträt von Salaheddin Ayyubi ist zu sehen, dem großen kurdischen Helden, aus dessen Dynastie sich im 14. Jahrhundert hier ein Fürst niederließ und ein mächtiges kurdisches Emirat errichtete. Die allgegenwärtige Geheimpolizei des türkischen Staates erstickt jede Regung kurdischen Nationalgefühls. Seit mehr als einem Jahr herrscht in dieser Region wieder Ausnahmezustand, seit die Kämpfe zwischen kurdischen Guerillas und Sicherheitskräften wieder aufflammten. Das Kriegsrecht verhindert auch jede Protestkundgebung gegen den Damm.

„Die Zerstörung Hasankeyfs wäre ein Verlust für die gesamte Menschheit“, warnt das „Kurdische Menschenrechtsprojekt“, eine von zahlreichen lokalen und internationalen NGOs, die sich der Rettung dieses Kulturerbes verschrieben haben. Hunderte kulturhistorische Plätze sollen in den Fluten ertränkt werden. Nur etwa 20 Prozent sind bisher archäologisch erforscht. Ein Teil der Monumente soll an einen sicheren Ort verlegt werden. Eine Unmöglichkeit, so der Chef des Ausgrabungsteams, Abdulselam Ulucam. „Wenn man die Artefakte abtransportiert, ohne sie entscheidend zu verstärken, werden sie zusammenstürzen.“

Doch nicht nur die Geschichte, auch die Zukunft der dort lebenden Menschen soll in den Fluten versinken. Für die lokale Bevölkerung hat der Damm keinen entwicklungspolitischen Sinn. Sie soll – so heißt es offiziell – umgesiedelt und kompensiert werden. Doch Regierungspläne bleiben vage, die Menschen sind misstrauisch. „Der türkische Staat hat uns nie unterstützt. Wenn sie uns hier überfluten, nur Gott weiß, wo sie uns dann hinschicken werden“, klagt ein Bewohner von Hasankeyf.

Die Regierung verspricht Entschädigungszahlungen. Doch Beispiele von anderen Dammprojekten der Region zeigen, dass nur die winzige Schicht der Agas, der Großgrundbesitzer, Kompensation erhält, während die Masse der ohnehin bitterarmen Bauern völlig leer ausgehen wird. Den meisten wird keine andere Wahl bleiben, als sich den Hunderttausenden Kurden anzuschließen, die durch die vom Militär betriebene Zerstörung ihrer Dörfer in den Achtzigerjahren und durch den Bau anderer Staudämme in die Slums der Großstädte getrieben wurden und im Elend, bei einer Arbeitslosigkeit von bis zu 70 Prozent, vegetieren.

Warum, fragen lokale Aktivisten, investiert der Staat nicht einen Teil der Kosten – 1,2 Milliarden Euro – für das Ilisu-Projekt zur Entwicklung des Tourismus in dieser Region? Das würde den Menschen weit mehr helfen als der Damm. Doch die Finanzierung des Damms ist ebenso noch nicht geklärt. Sie hängt von der Entscheidung Österreichs, Deutschlands und der Schweiz ab, Exportkreditversicherungen zu gewähren. Dagegen aber spricht die internationale Rechtslage ebenso wie die humanitäre, kulturhistorische, aber auch ökologische Problematik des Projekts.

Der Zeitpunkt für den von Ankara betriebenen Projektbeginn erscheint keineswegs willkürlich. Unter Experten regt sich der Verdacht, die Türkei wolle den Bau rasch durchführen, bevor ihr ein EU-Beitritt Mindeststandards auf dem Gebiet der Menschenrechte und Ökologie aufzwingt. Zudem ist der derzeit von gewaltsamen Turbulenzen zerrissene Nachbar Irak – der hauptbetroffene Anrainerstaat – zu schwach, um außenpolitisch Druck auszuüben. Die Türkei hat sich jahrzehntelang geweigert, mit dem Irak und Syrien ein Abkommen über die Aufteilung des Wassers von Euphrat und Tigris zu schließen. Es ist zu fürchten, dass durch die Aufstauung von elf Milliarden Kubikmeter Wasser hinter dem Ilisu-Damm in den Sommermonaten entscheidend weniger Wasser in den Irak fließen wird.

Warum, fragen Kritiker, konzentriert sich die Türkei auf ein derart umstrittenes Projekt und untersucht nicht zur Lösung der wachsenden Energienot Alternativen, wie Solar- oder Windenergie, für die das Land gute Voraussetzungen böte? Die Kontrolle des Wassers in der so trockenen Region des Nahen Ostens aber verspricht geopolitische Macht. Dies und ein weiterer Schritt zur Zerstörung der kurdischen Identität dürften die wahren Motive der Herrscher in Atatürks Republik sein.
© Rheinischer Merkur Nr. 33, 17.08.2006