Die Welt, 15.11.2005

Erdogan deutet Beteiligung von Polizisten an Anschlag an

Istanbul - Der türkische Ministerpräsident Erdogan hat erstmals angedeutet, daß Angehörige der Sicherheitskräfte möglicherweise in einen politischen Mordversuch verwickelt waren. Darüber hinaus sagte der Regierungschef: "Unseren ersten Erkenntnissen zufolge sind diese Dinge nicht lokal", es handele sich also nicht um einen Einzelfall. Er kündigte die Bildung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses an.

Am 9. November waren zwei Angehörige des Geheimdienstes der Gendarmerie sowie ein kurdischer Informant und ein Gendarmeriefeldwebel von der Bevölkerung gefaßt worden, nachdem sie Augenzeugen zufolge eine Handgranate auf den Buchladen eines kurdischen Aktivisten geworfen hatten. Die Geheimdienstleute wurden von der Polizei aus "Mangel an Beweisen" wieder freigelassen.

Sollte sich der Verdacht einer - vielleicht eigenmächtigen - Verwicklung der Sicherheitskräfte erhärten, so würde das den Voraussetzungen für eine Aufnahme in die EU widersprechen, zu denen die Bedingungen eines Rechtsstaates und der zivilen Kontrolle über das Militär gehören.

Erdogans Äußerungen deuteten Konflikte mit Teilen des Militärs an. Seine Feststellung, der Vorfall sei kein lokaler Einzelfall, widersprach direkt einer Behauptung von Gendarmeriegeneral Fevzi Turkeri, der den Anschlag einen Einzelfall genannt hatte.

Außerdem unterstrich Erdogan zwar sein Einvernehmen mit Generalstabschef Özkök, der wie er dafür sei, notfalls auch Gesetze zu ändern, um den Fall aufklären und die Täter bestrafen zu können. Hingegen erwähnte er nicht Armeechef Büyükanit, der noch am Vortag einen der mutmaßlichen Täter als "wertvollen Soldaten" gelobt und hervorgehoben hatte, er persönlich habe den Offizier namens Ali Kaya einst befehligt.

Es war nicht klar, was genau Erdogan meinte, als er von Gesetzesänderungen sprach. Auf Anfrage sagte jedoch der frühere Abgeordnete Fikret Saglar, vor allem der Begriff des Staatsgeheimnisses müsse neu definiert werden. Saglar hatte in einem vergleichbaren Fall in einem Untersuchungsausschuß des Parlaments mitgewirkt. "Wir konnten keine Dokumente einsehen, weil einfache Beamte sie uns unter Hinweis auf ,Staatsgeheimnis" verweigerten", so Saglar. oky