Die Welt, 14.11.2005

Das auffällige Treiben der Todesschwadronen

Bevölkerung verhindert Attentat auf PKK-Aktivisten - Unterhält Ankara weiterhin Killerkommandos?

von Boris Kalnoky

Istanbul - Die Türkei verpaßt keine Gelegenheit, die Untätigkeit westlicher Länder gegenüber dem kurdischen Terrorismus anzuprangern. Nun scheint es, daß nicht nur Kurden als Terroristen aktiv sind, sondern möglicherweise auch Angehörige des Geheimdienstes der türkischen Gendarmerie.

In den neunziger Jahren war es mehr oder weniger Staatspolitik: PKK-Aktivisten wurden von Todesschwadronen der Sicherheitsdienste ermordet, wenn man sie aus irgendwelchen Gründen nicht ins Gefängnis bekam oder wenn sie ihre Haftstrafen abgebüßt hatten und wieder freigelassen werden mußten.

Genau einen solchen Kurden hatten am 9. November möglicherweise drei Männer eines Sonderkommandos des Geheimdienstes der türkischen Gendarmerie als Ziel. Aus einem fahrenden Auto heraus warfen sie laut Augenzeugen eine Handgranate auf den Buchladen des bekannten PKK-Sympathisanten Seferi Yilmaz in der Ortschaft Semdinli, nahe der Grenze zum Iran.

Yilmaz überlebte den Anschlag, und aufgebrachte Kurden stoppten den Wagen und griffen die Insassen an. Die schossen auf die Zivilisten - ein Kurde starb, vier andere wurden verletzt.

Das alles half den Männern nichts - sie wurden aus dem Wagen gezerrt, durchsucht, fotografiert, der Kofferraum wurde aufgebrochen. Darin lagen drei Kalaschnikows mit elf Magazinen, zwei Handgranaten der türkischen Armee und Identitätsdokumente: ein Ausweis des JIT (Geheimdienst der Gendarmerie) auf den Namen Ali Kaya sowie Urlaubserlaubnisse des türkischen Militärs.

Ebenfalls in dem Wagen befand sich eine Liste mit zahlreichen Namen von PKK-Sympathisanten, darunter Yilmaz, weswegen man vermuten darf, dies sei eine "Todesliste". Dazu ein akribischer, handgezeichneter Straßenplan, in dem Yilmaz' Buchladen markiert war.

Damit wäre es um die Täter geschehen gewesen, der Mob schickte sich an, sie zu lynchen; türkische Sicherheitskräfte erschienen jedoch und schritten ein, wobei weitere zehn Kurden verletzt wurden.

Seither sind die Sicherheitskräfte aus den Straßen Semdinlis weitgehend verschwunden. Die Bevölkerung errichtet Barrikaden, und die Unruhen weiten sich auf Nachbarorte aus, während die nationalen Medien sowie kurdische Zeitungen und Internet-Publikationen wie www.dozame.org den Fall ausführlich beleuchten.

Folgt man den kurdischen Medien, so sollen die JIT-Agenten Ali Kaya und Özkan Ildeniz im Verhör dem örtlichen Staatsanwalt Harun Ayik zunächst gestanden haben, den Anschlag verübt zu haben. Ebenfalls sollen sie gesagt haben, daß sie Anfang November einen anderen Anschlag verübten - auf das örtliche Polizeihauptquartier. Dabei waren 23 Menschen verletzt worden, und die Medien hatten den Angriff der PKK zugeschrieben.

Den türkischen Medien zufolge haben die JIT-Agenten jedoch gar nichts gestanden, vielmehr hätten sie ausgesagt, sie seien zufällig in der Gegend gewesen, als die Granate explodierte, und seien dann grundlos von der Bevölkerung angegriffen worden. Sie wurden inzwischen freigelassen, mangels Beweisen, ungeachtet der Todesliste und des Straßenplans. Lediglich ein Mann bleibt in Haft, ein PKK-Aktivist namens Veysel Ates, der offenbar zugleich Informant der Gendarmerie war. Er soll, den kurdischen Medien zufolge, gestanden haben, daß er die Granate warf, allerdings auf Befehl der beiden Geheimdienstoffiziere. Den türkischen Medien sind keine Aussagen dieses Mannes zu entnehmen.

Derweil hat sich kein anderer als der türkische Armeechef Büyükanit in den Fall eingemischt, mit öffentlichem Lob für Geheimdienstmann Ali Kaya. "Ein wertvoller Soldat, der Kurdisch spricht", sagt der General und betont, er selbst habe Kaya einst befehligt.

Ministerpräsident Erdogan versprach gestern, dem Fall auf den Grund zu gehen. Kurdische Medien argwöhnen jedoch, daß die JIT-Leute auf Drängen des Militärs freigelassen wurden und somit wenig Chancen bestünden, die Wahrheit zu erfahren oder gar die Täter zu bestrafen.