junge Welt, 19.05.2004

Interview: Martin Dolzer

Niederlande wollen Kurden-Politikerin abschieben: Präzedenzfall für Auslieferungen in die Türkei?

jW sprach mit Nilüfer Koc, Mitglied des Exekutivrates des Volkskongresses Kurdistan (KONGRA-GEL)

F: Aus Protest gegen ihre drohende Abschiebung aus den Niederlanden ist Nuriye Kesbir, Mitglied des Exekutivrates des Volkskongresses Kurdistan, in einen Hungerstreik getreten. Was ist dem vorausgegangen?

Nuriye Kesbir hat sich mehr als die Hälfte ihres Lebens für die Rechte der kurdischen Bevölkerung eingesetzt. Am 25. September 2001 reiste sie in die Niederlande und beantragte dort politisches Asyl. Während ihres Antragsverfahrens beantragte der türkische Staat seinerseits die Auslieferung Kesbirs wegen angeblicher Beteiligung an verschiedenen militärischen Aktionen der PKK. Kesbir war seit September 2001 in Zwolle inhaftiert, bis ein Amsterdamer Gericht im Dezember 2002 die Auslieferungsbegründung als unglaubwürdig zurückwies und Kesbir freisprach. Die Staatsanwaltschaft hat gegen diese Entscheidung Revision eingelegt. Am 5. März erschien Kesbir zu einer Gerichtsverhandlung über ihre Auslieferungsangelegenheit und wurde noch vor dem Gerichtsgebäude festgenommen und in Breda inhaftiert. Am 7. Mai beschloß schließlich das Kassationsgericht in Den Haag die Auslieferung von Kesbir an die Türkei – unter der Bedingung, daß die Türkei garantiere, sie nicht zu foltern oder zu mißhandeln und ihr einen fairen Prozeß zu ermöglichen. Nun liegt die letzte Entscheidung beim Justizminister. Seither befindet sich Kesbir in einem unbefristeten Hungerstreik.

F: Was droht Nuriye Kesbir im Falle einer Abschiebung in die Türkei?

Internationale und türkische Menschenrechtsorganisationen berichten über andauernde Folter, Vergewaltigung und Mißhandlungen von politischen Häftlingen in der Türkei. Nach den Prozessen gegen kurdische Politiker – Abdullah Öcalan sowie Leyla Zana und weitere kurdische Abgeordnete – urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, daß den Angeklagten ein faires Verfahren versagt geblieben ist.

F: Ist eine türkische Garantieerklärung für ein faires Verfahren nichts wert?

Es gibt starke Zweifel an der Unabhängigkeit der Gerichte in der Türkei. Es herrschen starke, von der Regierung nicht kontrollierbare Kräfte innerhalb des Staates, die sich an derartige Garantien nicht halten und über genügend Macht verfügen, ihre Position durchzusetzen.

F: Wie kann man Nuriye unterstützen?

Die Niederlande, die noch eine ganze Reihe weiterer kurdischer Politiker loswerden möchten, könnten mit der Auslieferung Nuriyes einen Präzedenzfall schaffen, der weitere Abschiebungen und Auslieferungen deutlich erleichtern würde. Das würde auch dem kurdenfeindlichen Flügel im türkischen Staat den Rücken stärken und das Klima in der Türkei verschärfen. Auch die Atmosphäre zwischen den Kurden und den Niederlanden würde beeinträchtigt. Durch ein derartiges Vorgehen wird mit Sicherheit kein positiver Beitrag zur Lösung der kurdischen Frage geleistet.

Darüber hinaus stellt sich für mich die Frage, wohin Europa sich entwickelt, wenn das Recht Partikularinteressen zum Opfer fällt. Deshalb geht diese Abschiebung alle an, die sich ein besseres und gerechteres Europa wünschen. Sie alle sollten ihren Protest beim niederländischen Justizminister und den EU-Vertretungen in Deutschland kundtun.