junge Welt, 17.07.2003

Julius Wilm

Die erste »Befreiung«

Eine Bombe auf jedes Dorf, das aus der Reihe tanzt: Die britische Kolonialherrschaft in den Provinzen Basra, Bagdad und Mosul

In junge Welt vom 19. Juni 2003 kommentierte Rainer Rupp den Spott britischer Zeitungen über die Unprofessionalität der USA bei der kolonialen Zurichtung des Irak: »Die Amis brauchen also nur die Briten ranzulassen, die auf einige Jahrhunderte mehr Kolonialerfahrungen verweisen können als das noch ungeschliffene neue Imperium in Washington.« In der Tat haben die Briten den Amis die Kolonialisierung des Irak vor mehr als 80 Jahren vorgemacht. Und auch sie erhielten damals den Segen der »Völkergemeinschaft«.

Ölinteressen vor 1914

Die Meinung des Henry Kissinger, daß »Öl eine viel zu wichtige Sache ist als daß man sie den Arabern überlassen könnte«, wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Kreisen der britischen Admiralität geteilt. Die forcierte Umrüstung der britischen Flotte von Kohle auf Ölfeuerung hatte den Rohstoff immer wichtiger gemacht. Größte Erdölproduzenten waren seinerzeit die USA und Mexiko, das sich damals weitgehend unter US-Kontrolle befand. Um nicht in Abhängigkeit von den USA zu geraten, war es entscheidend, so eine britische Militärkommission 1912, »daß wir die Eigentümer oder zumindest die Kontrolleure der Menge Erdöl werden müssen, die wir benötigen.«

In den Jahren zuvor waren erste Erdölvorkommen in den südlichen Provinzen des Osmanischen Reiches und in Persien entdeckt worden. 1909 entstand die britische Ölgesellschaft Anglo-Persian Oil Company (APOC) mit Förderkonzessionen für Persien und Teile Mesopotamiens. 1914 hatte ein weiteres Konglomerat, die Turkish Petroleum Company (TPC), Konzessionen für die osmanischen Provinzen Bagdad und Mosul erhalten. 1914, wenige Tage vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, kaufte die britische Regierung 51 Prozent der APOC und kontrollierte dann nach der Verschmelzung mit der TPC im selben Jahr die einzige Ölfördergesellschaft des Mittleren Ostens unter dem Namen der TPC.

Als Verbündeter des Deutschen Reiches erklärte das Osmanische Reich am 5. November 1914 Frankreich und Großbritannien den Krieg. Bereits einen Tag später landeten die ersten indisch-britischen Truppen im südlichen Mesopotamien. Bis 1918 gelang es ihnen, die osmanischen Provinzen Basra, Bagdad und Mosul, das heutige irakische Staatsgebiet, zu besetzen und es der 400jährigen osmanischen Herrschaft zu entreißen. Als die Briten im März 1917 Bagdad erreichten, gab ihr Oberkommandierender Lieutenant-General Sir Stanley Maude eine Erklärung ab, die US-Befehlshaber Tommy R. Franks im April dieses Jahres einfach hätte wiederholen können: »Unsere Armeen kommen nicht in eure Städte und euer Land als Eroberer oder als Feind, sondern als Befreier. Einwohner Bagdads, vergeßt nicht: Seit 26 Generationen leidet ihr unter fremden Tyrannen, die alles dafür taten, daß ein arabisches Haus gegen ein anderes stand, damit sie von eurer Uneinigkeit profitieren konnten. Diese Politik ist abscheulich für Großbritannien und seine Alliierten, denn es kann weder Frieden noch Wohlstand geben, wo Feindschaft oder eine schlechte Regierung herrscht.«

Es ist überliefert, daß viele Iraker diesen Worten Glauben schenkten und sich über das lang erwartete Ende der Kampfhandlungen und die Vertreibung der brutalen türkischen Fremdherrscher freuten. Aber natürlich lag es nicht in Großbritanniens Absicht, die eben eingenommenen Gebiete einfach dem Willen der dort lebenden Bevölkerung zu überlassen.

Freihandel und Völkerbund

1915 war dem Sherrif Hussein von Mekka versprochen worden, einen unabhängigen großarabischen Staat anzuerkennen, wenn sich die Araber gegen die Türken erheben. Unter Mißachtung dieses Versprechens hatten sich Großbritannien und Frankreich bereits vor dem gemeinsamen Einmarsch in den südlichen Teil des Osmanischen Reiches über die Verteilung der eroberten Gebiete verständigt: Frankreich sollte Syrien und den Libanon, Großbritannien den Irak, Palästina und Jordanien bekommen. Nach dem ursprünglichen Abkommen sollte auch die nordirakische Provinz Mosul an Frankreich gehen. Statt dessen erhielt Frankreich die 25 Prozent der TPC, welche die Sieger der Deutschen Bank abgenommen hatten.

Nach der nur wenige Jahre zuvor üblichen Praxis wären die besetzten Gebiete einfach in die Kolonialreiche der Siegerländer einverleibt worden. Das aber wollten die aus dem Ersten Weltkrieg deutlich gestärkt hervorgegangenen USA nicht zulassen. Als bisher relativ Kurzgekommene im imperialistischen Geschäft lag ihnen daran, auf die neu zur Verteilung anstehenden, »befreiten« Gebiete einen gleichberechtigten Zugriff zu bekommen. Dieses Ziel sollte im neuen Völkerbund unter dem Label »nationaler Souveränität« verwirklicht werden. Das Recht auf Selbstbestimmung stünde prinzipiell auch den »befreiten« osmanischen Provinzen zu. Leider fand man diese Provinzen »bewohnt von Völkern, welche sich noch nicht selbst regieren können«. Deshalb trug der Völkerbund den »entwickelten Ländern« Großbritannien und Frankreich an, die Völker in den besetzten Gebieten »nach den Prinzipien des Wohlergehens und der Entwicklung« in die Lage zu versetzen, sich selber zu regieren. Dazu erteilte man ihnen »Mandate« über die besetzten Gebiete. Das Mandat befugte die Besatzer, über viele Jahre hinweg die Außen-, Finanz- und Militärpolitik dieser Gebiete zu kontrollieren.

Ökonomisch sollte aber das Prinzip der Freihandelspolitik, die »Open Door« gelten: Allen Siegermächten sollte es erlaubt sein, sich gleichberechtigt in den Mandatsgebieten ökonomisch zu betätigen. So war ein Kompromiß zwischen den Imperialisten gefunden. Mit der »Selbstregierung« nahm man es allerdings nicht so genau: Unter ihrer Oberherrschaft betrieben die Briten die Errichtung der Irakischen Monarchie, die nur mittels eines Referendums bestätigt werden sollte. In den Worten eines hohen Beamten: »Ein Apparat mit arabischen Einrichtungen, den wir sicher alleine lassen können, während wir im Hintergrund die Fäden ziehen. Eine Lösung, die nicht viel kostet, die Labour mit ihren Prinzipien schluckt, und die uns unsere ökonomischen und politischen Interessen sichert.«

Für die meisten der oftmals noch in Stammesverhältnissen lebenden Iraker bedeutete die Einrichtung eines Staates, wie ihn die Briten betrieben, vor allem zweierlei: Von den ohnehin durch vierjährige Kampfhandlungen geschmälerten landwirtschaftlichen Erträgen sollten sie nun auch noch Steuern an die britische Marionettenregierung abführen. Auch sollten sie den neuen Herren als Menschenmaterial in den Streitkräften nützlich sein. Unter der maroden osmanischen Herrschaft der Vorkriegsjahre war es leicht möglich gewesen, sich beiden Zwängen zu entziehen. Für die kurdischen Stämme im Norden des Landes kam das Ärgernis hinzu, daß sie nun einer arabischen Regierung in Bagdad unterstehen sollten.

Kontrolle aus der Luft

Und so kam es seit 1917 immer wieder zu Hungerrevolten und Aufständen in allen Teilen des Landes. 1919 revoltierten die Kurden im Norden. Bei der Niederschlagung dieses Aufstandes kam zum ersten Mal das Konzept der kolonialen Kontrolle aus der Luft des Bush-Idols Winston Churchill zum Einsatz. Churchill, seit 1919 Kriegsminister, stand angesichts des Unwillens des Kabinetts, die antikommunistische Intervention in der Sowjetunion fortzusetzen, vor der Aufgabe, die Militärausgaben zu senken und das Heer zu demobilisieren. Er wollte das durch den Einsatz der neu gegründeten Royal Airforce schaffen. Sie sollte in hohem Maße die Truppen zur Kontrolle der neuen Kolonien im Mittleren Osten ersetzen. Bomben, Giftgas und Maschinengewehre sollten aus der Luft im Irak für britische Ruhe und Ordnung sorgen.

Gegen das Luftbombardement, besonders aber gegen den Einsatz von Giftgas, gab es Vorbehalte im britischen Militär. Die Erinnerung an die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs waren noch frisch. Sechs Millionen Soldaten waren umgekommen, jeder zehnte davon durch den Einsatz von Giftgas. Der Kriegsverlierer Deutschland hatte in Versailles unterschrieben, die Produktion und Forschung von Giftgas einzustellen. Jetzt wies Churchill »diejenigen, die nicht klar denken«, zurück. »Ich verstehe den Widerstand gegen den Einsatz von Gas nicht. Ich bin sehr dafür, Giftgas gegen unzivilisierte Stämme einzusetzen«, schrieb Churchill den Bedenkenträgern. Das eingesetzte Gas müsse nicht tödlich sein, sondern solle lediglich »große Schmerzen hervorrufen und einen umfassenden Terror verbreiten«. Mehr als 60 Jahre vor Saddam Husseins Einsatz von Giftgas während des Krieges gegen den Iran wurden im Winter 1919/20 kurdische Dörfer von den Briten mit Giftgas angegriffen. Die Ergebnisse waren tödlich. Die Briten haben dennoch am Einsatz von Giftgas noch bis 1924 festgehalten.

Desillusioniert vom Charakter des neuen Regimes, sammelten sich die Irakis im Sommer 1920 zum flächendeckenden Volksaufstand. Anfang Juli demonstrierten wütende Irakis in Rumaitha gegen die Kolonialmacht. Die Briten schickten mehr Soldaten und griffen aus der Luft an. Zeitweise befanden sich weite Teile Iraks bis auf die Provinzhauptstädte Bagdad, Basra und Mosul nicht mehr unter britischer Kontrolle.

»Mit äußerster Härte« schlugen die Briten den Aufstand nieder. In seinen Erinnerungen an diese Zeit zitiert Lieutenant-General Sir Aylmer L Haldane die von ihm gegebenen Befehle für die Behandlung von Irakis, die mit Schußwaffen angetroffen werden: »Das Dorf, wo er Zuflucht findet, wird zerstört, Druck wird auf die Bewohner ausgeübt werden durch die Zerstörung der Wasserversorgung; lebensnotwendige Versorgungen werden verweigert.« Dem Befehl war die Warnung hinzugefügt: »Es dauert lange, ein Dorf niederzubrennen. Eine Stunde oder mehr, abhängig von der Größe.« Natürlich gelang es den militärisch weit überlegenen Briten, die Kontrolle zurückzuerlangen. Als 1921 wieder Ruhe und Ordnung im britischen Sinne herrschten, waren 9000 Irakis tot. 2000 britische Soldaten, in der Mehrzahl zwangsrekrutierte Inder, waren umgekommen.

Das Konzept des Luftbombardements zur kolonialen Kontrolle wurde noch bis in die dreißiger Jahre praktiziert, als sein Erfinder, Winston Churchill, längst nicht mehr Minister war. Alles, was in diesen Jahren gegen die britische Herrschaft in Nahost aufbegehrte, wurde von der Royal Airforce bombardiert. Die völlig verarmten Stämme wurden aus der Luft beschossen und ihre Ernten niedergebrannt. So sollte Widerstand vorgebeugt werden. Auf dieses innovative Konzept war man im britischen Militär seinerzeit ähnlich stolz wie heute die Amis über Shock and Awe (Schock und Schrecken).

So erklärte Arthur Harris, Kommandeur des 45. Squadrons der Royal Airforce, der heute noch als Statue in der Londoner Fleet Street steht, nach einem Bombeneinsatz 1924: »Der Araber und der Kurde hatten angefangen zu glauben, wenn er ein bißchen Lärm ertragen konnte, könnte er es ertragen, bombardiert zu werden und immer noch diskutieren. Sie wissen nun, was echtes Bombardieren heißt, in Verlusten und Schäden; sie wissen nun, daß innerhalb 45 Minuten ein ganzes Dorf faktisch ausgelöscht und ein Drittel der Einwohner getötet oder verletzt werden können von vier oder fünf Maschinen, die ihnen kein richtiges Angriffsziel, keine Chance auf eine Ehre als Krieger und keine Chance zur Flucht lassen.« Weiter empfahl er, »eine 250- oder 500 Pfund-Bombe in jedes Dorf zu werfen, das aus der Reihe tanzt«. Gegen diese Praxis, die doch offiziell »den Prinzipien des Wohlergehens und der Entwicklung« der Irakis Rechnung tragen sollte, regte sich international wenig Protest.

Streit um die Beute

Das war ganz anders, wenn kommerzielle Interessen der imperialistischen Sieger bedroht waren. So sorgte es bereits 1919 für Irritationen bei den Amerikanern, daß es den Besitzern der TPC erlaubt worden war, Untersuchungen für weitere Ölbohrungen im Irak vorzunehmen. Die US-amerikanische Botschaft in London protestierte und verlangte das gleiche Recht für amerikanische Firmen. Die exklusiven Ölförderrechte und die Entwicklungsrechte der britisch dominierten TPC entsprächen nicht der vereinbarten Politik der »Open Door«, so die US-Vertreter. Winston Churchill 1922 notierte in einem Kabinettspapier, daß »weder die USA oder Frankreich besonders traurig wären, die Türken zurück in Mosul zu sehen, um ihren Leuten die Ölverträge zu geben, die jetzt von der Regierung seiner Majestät für die Turkish Petroleum Company in Anspruch genommen werden«. Nach jahrelangem diplomatischen Gezerre wurde der Streit dadurch beigelegt, daß die Briten die Amerikaner am Geschäft beteiligten. Standard Oil of New Jersey und Socony (später als Exxon und Mobil, heute als Zusammenschluß Exxon-Mobil bekannt) bekamen 1928 zusammen 23,75 Prozent der TPC, die nun Iraq Petroleum Company hieß.

Als die Briten 1932 den Irak in die »Unabhängigkeit« entließen, hatten sie der IPC die exklusiven Ölförderrechte über viele Jahrzehnte gesichert. Eine kleine Gruppe sunnitischer Bürokraten und Politiker, in völliger Abhängigkeit von den Briten gehalten, kontrollierte die Regierungsgeschäfte. Außenpolitisch und militärisch sollte die Treue des Vasallen durch die fortwährende Präsenz der Royal Airforce gesichert bleiben. Als das nicht reichte, weil das faschistische Deutschland auch in Mesopotamien als Konkurrent auftrat, besetzten die Briten 1941 abermals das Land.

Ein Offizier der Royal Airforce zeichnete einige Tage nach dem Ende der offiziellen Mandatszeit 1932 ein Gespräch mit einem Neuankömmling auf einer »ruhigen Dinnerparty in Bagdad« auf:

»Natürlich war der wahre Grund, Deutschland gerade hier anzugreifen, unsere Position in bezug auf das Öl zu stärken. Ich nehme an, die Regierung dachte an die Zukunft. (...) War nicht dies der wahre Grund?«

»Niemand erwähnte diese Dinge damals. Ich nehme nicht an, daß die Armeen, die hier kämpften, am Öl interessiert waren. Wenn sie für etwas kämpften, war es nicht etwas Höheres?«

»Sie meinen ›Stolzes kleines Belgien‹, ›Die Welt für Demokratie sicher zu machen‹, oder so etwas, Sir?«

»Ja, so etwas.«

»Ach, kommen Sie schon. Ist das nicht eher die akademische Version?«

* Literatur:

David E. Omissi: Air Power and Colonial Control. The Royal Air Force 1919–1939«, Manchester 1990;

Research Unit for Political Economy: Behind the Invasion of Iraq, Mumbai 2002;

Geoff Simons: Iraq: From Sumer to Saddam, London 1994;

Peter Sluglett: Britain in Iraq 1914-1932, London 1976