junge Welt, 13.03.2003

Kommentar

Gerd Schumann

Doppelte Todesstrafe

Europäisches Urteil zu Abdullah Öcalan

Das Urteil ist gefällt. Es lautet: Das Verfahren gegen Abdullah Öcalan war »nicht fair«, das Tribunal »nicht unabhängig und nicht unparteiisch«. Um festzustellen, was alle Welt seit spätestens dem 29. Juni 1999 weiß, als der ehemalige PKK-Vorsitzende in einer Prozeß-Farce zum Tode verurteilt wurde, brauchte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof an die drei Jahre. Mußten die sechs hohen Herren so lange mit ihrem türkischen Kollegen ringen, bis der dann doch gegen sie stimmte? 6:1 also für Öcalan.

Für Öcalan? Keinesfalls, denn ab sofort bleibt alles, wie es war. Das ganze juristische Procedere wird noch viel länger dauern, so daß die nunmehr kursierende Schlußfolgerung, nach der Öcalan noch einmal vor Gericht dürfe, Zukunftsmusik ist – wenn überhaupt. Derzeit existiert in der Türkei noch kein Gesetz, das die Wiederaufnahme von Verfahren nach Sprüchen aus Strasbourg vorschreibt. Sonst hätte zum Beispiel Leyla Zana, die erste Kurdin im türkischen Parlament und seit nun über acht Jahren in Ankara einsitzend, längst freigesprochen werden müssen. Denn sie wurde in einem unfairen Verfahren von einem nicht unabhängigen und nicht unparteiischen Staatssicherheitsgericht verurteilt. Leyla Zana ist eine politische Gefangene. Auch Abdullah Öcalan ist ein politischer Gefangener. Er gehörte zu den Gründern der PKK (Arbeiterpartei Kurdistan), 1984, in den dunklen Zeiten der offen terroristischen Militärdiktatur in der Türkei – einer Partei, über die sicher weiter gestritten werden wird, auch nach deren Selbstauflösung zur KADEK, deren Guerilla allerdings so oder so entscheidenden Anteil daran hat, daß die kurdische Frage auf die Tagesordnung zumindest der Geschichte der Türkei kam. Dementsprechend wurde ihr Chef Öcalan »Staatsfeind Nr. 1« der »türkischen Republik«. Seine geheimdienstliche Entführung aus Kenia, seine Verfrachtung als fest verschnürtes Menschenpaket, torkelnd wie unter Drogen, vorgeführt wie Ulrike Meinhof, war ein Musterbeispiel für die völlige Skrupellosigkeit eines Apparats, der genau in diesem Stil bis heute weitermacht und Öcalan isoliert auf Imrali im militärischen Schutzgebiet des Marmara-Meers.

Alle diese Klagepunkte der Öcalan-Vertreter wies der Europäische Menschenrechtsgerichtshof zurück. Verschleppung? Abgewiesen. Isolation? Abgewiesen. Statt dessen das Urteil wegen der verhängten Todesstrafe, die es seit 2002 gar nicht mehr gibt, Stichwort: EU-Anpassung der Türkei. Im Krieg allerdings, da könnte sie wieder eingeführt werden. Als Öcalan vor Gericht im Mai 1999 einen »Friedensprozeß« verkündete, von der Insel aus die Entwaffnung der Guerilla verfügte, so daß seine heimatlos gewordenen Guerillareste im »großen Süden« des kurdischen Irak untertauchten – wer hätte damals gedacht, daß deren Hinrichtung durch die türkische Armee ebenso bevorsteht wie die ihres großen Vorsitzenden 1000 Kilometer weiter nach Westen? Im Kriegsfall. Und Europa?