Süddeutsche Zeitung 28.12.98

IM PROFIL
Yalim Erez Designierter türkischer Ministerpräsident

Wenn man den Instinkten der Istanbuler Börse Glauben schenkt, dann gibt es schon eine neue türkische Regierung unter der Führung von Yalim Erez. So sicher waren sich die Anleger, daß sie den Kurs der Aktien von Erez’ Ziegelfabrik binnen 48 Sunden nach seiner Berufung um 44 Prozent in die Höhe trieben. Die Spekulanten hatten eine sehr türkische Rechung aufgemacht: Ziegel bedeuten Neubauten, und die Regierung in Ankara ist traditionell der größte Bauherr. Ergo: Ein Premier Erez würde den Ziegeleibesitzer Erez mit Aufträgen bedenken. Freilich tut man ihm wohl mit einer solch einfachen Gleichung unrecht.
Denn der Name des 55jährigen Kurden aus dem ost-anatolischen Van wurde bisher noch nie im Zusammenhang mit krummen oder schmutzigen Geschäften erwähnt. Diese Leistung ist umso bemerkenswerter, als Yalim Erez’ politische Karriere jahrelang untrennbar mit der von Tansu Ciller verbunden war. Und die Ex-Regierungschefin gilt vielen in der Türkei als Inbegriff der Korruption.
In der Tat scheinen die Chancen des parteilosen Abgeordneten, der im Kabinett Yilmaz das Amt des Industrieministers hatte, nicht schlecht zu sein, die 56. Regierung der Türkei zu bilden. Erez genießt über die Parteigrenzen hinaus großes Ansehen im linken wie auch im bürgerlichen Lager.  Das schließt sogar die Islamisten ein, ohne oder gar gegen deren Fraktion – die stärkste im Parlament – keine tragfähige Regierung gebildet werden kann.
Die Sympathien der Islamisten sind umso überraschender, als niemand anderer als Erez vor zwei Jahren das Ende der ersten islamistisch geführten Regierung der Türkei herbeigeführt hatte.  Seinerzeit war er noch Mitglied in der von Ciller geführten „Partei des Rechten Weges“ (DYP), und er verwaltete auch damals schon das Industrieressort in der Regierung unter Ministerpräsident Necmettin Erbakan. Doch weder Parteidisziplin noch die jahrelange enge Verbindung zu seiner Parteichefin Ciller hinderten Erez daran, aus Protest gegen die Koalition mit den Muslimen die Partei zu verlassen. Am Ende dieser Entwicklung stand die kalte Entmachtung des gewählten Kabinetts Erbakan.
Yalim Erez stammt aus kleinen Verhältnissen – sein Vater war Händler – und kam auf Umwegen in die Politik. Bevor er vor drei Jahren zum ersten Mal ein Abgeordnetenmandat errang, hatte er sich als Vorsitzender der Istanbuler Handelskammer und als Präsident der einflußreichen „Vereinigung türkischer Warenkammern und Börsen“ (TOBB) einen Namen gemacht.
Doch in all diesen Jahre stand er bereits dem jetzigen Staatspräsidenten Süleyman Demirel und dessen politischer Ziehtochter Ciller sehr nahe. Manche Beobachter vermuten, daß Erez die ehrgeizige Dame überhaupt an die Macht gebracht hat. Die Geschäftswelt sieht in Erez in erster Linie den Unternehmer und hofft daher auf belebende Impulse in der Wirtschaftspolitik. Auch diese Aussicht dürfte die Istanbuler Börse beflügelt haben. Viel Zeit für einschneidende Maßnahmen bliebe indes auch Erez nicht. Am 18. April soll ein neues Parlament gewählt werden.
Wolfgang Koydl