Frankfurter Rundschau 28.12.98

Trügerische Ruhe
Wer Mut hat, genau hinzuschauen, wird sich über die niedrigen Asylbewerberzahlen nicht freuen können
Von Pitt von Bebenburg
Sie werden sich auf die Schulter klopfen, wenn in diesen Tagen die Asylbewerber-Statistik für 1998 veröffentlicht wird. Die Zahl der Flüchtlinge, die es in das Verfahren geschafft haben, wird weiter auf dem niedrigen Niveau der vergangenen Jahre bleiben. Die rigorose Abschottungspolitik der Ära Kohl/Kanther, die in der Grundgesetzänderung von 1993 gipfelte, zeitigt Ergebnisse. Und die Befürworter der harten Linie aus Union und SPD werden sie als Erfolge preisen.
Weniger Asylbewerber - das beruhigt. Es hört sich so an, als habe Deutschland endlich seine Ruhe vor den Krisen und Konflikten in aller Welt. Weniger Asylbewerber - das ist populär. Also werden Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Innenminister Otto Schily einen Teufel tun, etwas Einschneidendes daran zu ändern.
Doch die Ruhe trügt, und die nackte Zahl lügt. Wer ein bißchen genauer hinsieht, mit welchen Mitteln die Statistik erzielt wurde, den muß es schaudern. Denn Deutschland sortiert von vornherein fast alle aus, deren Fluchtweg nachvollziehbar ist. Und selbst die, die das Asylverfahren erreichen, scheitern häufig am verengten Verständnis von politischer Verfolgung - so bleibt auch Menschen mit sehr schlimmen Leidensschicksalen das Asylrecht versagt.
Natürlich sind nicht alle Fälle so kraß. Vor allem Kosovo-Albaner und Kurden erhoffen sich über ihr Asylbegehren eine bessere Zukunft im Wohlstands-Europa. Wer will in jedem Fall die Grenze ziehen zwischen Armutsflüchtlingen, Bürgerkriegsvertriebenen und politisch Verfolgten? Der Staat steht also vor einem Dilemma. Doch die Lösung, die gezimmert wurde, ist kläglich.
Der Fluchtweg entscheidet darüber, ob sich überhaupt hierzulande jemand den Fluchtgrund anhört. Wer auf dem Landweg - über sogenannte sichere Drittländer - kommt, darf sich nicht ertappen lassen, weil er dann sofort zurückgeschoben würde: damit treibt der Staat die Flüchtlinge in die Arme oft skrupelloser Schlepper. Wer per Flugzeug kommt, wird in das Flughafenverfahren gedrängt, und wieder halten formale Hürden den Behörden das Problem vom Leib: wer die haarscharf bemessenen Fristen nicht einhält, die für einen traumatisierten Flüchtling ohne guten Anwalt nicht zu schaffen sind, fliegt zurück. Das sind die formalen Tricks, mit denen Deutschland seine Statistik poliert; auf Kosten der Schutzsuchenden.
Viele wollen das nicht hören. Deutschland könne nicht allein die Probleme der ganzen Welt lösen, lautet ihr Standardsatz, der oft genug als Ruhekissen dienen soll. Aber wenn man das Argument ernst nimmt, steckt noch mehr dahinter: eine Aufforderung, sich für eine humane Flüchtlingspolitik in ganz Europa stark zu machen. Mit seiner EU-Präsidentschaft hat Bonn diese Chance.
Doch besitzt Rot-Grün den Willen dazu? Wer sich den Koalitionsvertrag ansieht, hat allen Grund, daran zu zweifeln. In der Flüchtlingspolitik hält er im wesentlichen am Bestehenden fest. Führende Grünen-Politiker sahen darin ihre „bitterste Niederlage“. Die Auftritte von Innenminister Otto Schily (SPD) und der Ausländerbeauftragten Marieluise Beck (Bündnisgrüne) am Frankfurter Flughafen haben den Eindruck bestätigt, daß auch in Sachen Flughafenverfahren Rot gegen Grün steht - und Rot sich durchsetzt. Vor diesem Hintergrund hat Joschka Fischer es zur Aufgabe erklärt, die Stimmung im Lande und damit in der SPD zu wenden.
Das ist löblich. Doch zugleich muß er als Außenminister die Chance beim Schopf ergreifen, die die besondere Rolle in der EU im nächsten halben Jahr bietet. Wer die Menschenrechte zur Maßgabe seiner Außenpolitik erklärt, muß ein Europa anstreben, das sich seiner Verantwortung für die Flüchtlinge stellt. Nicht mehr der Fluchtweg darf das Maß aller Dinge sein, sondern der Grund zur Flucht.
Fünf Gruppen von Menschen, die heute durch das Raster fallen, haben unseren Schutz besonders nötig. Europa muß Frauen, die unter geschlechtsspezifischer Verfolgung leiden, Asyl gewähren; Europa muß Flüchtlingen, die - wie in Algerien oder Afghanistan - unter systematischer Verfolgung leiden, die nicht vom Staat ausgeht, Schutz bieten; Europa muß Homosexuellen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung gejagt werden, Zuflucht gewähren; Europa muß diejenigen schützen, die ihre Teilnahme an Kriegen und Bürgerkriegen verweigern; und Europa muß seine Verantwortung für vertriebene Kinder und Jugendliche wahrnehmen.
Wer keine Angst hat, die Augen zu öffnen, wird sich über die niedrigen Asylbewerberzahlen nicht freuen können. Jüngst haben die Kirchen in ihrer Begründung für das Kirchenasyl schonungslos offengelegt, wie hierzulande mit Flüchtlingen umgesprungen wird. Das geht alle an. Denn auf dem Spiel stehen, so formulierten es die katholischen Bischöfe, „die Grundwerte in einem demokratischen Gemeinwesen“.