junge Welt 12.12.1998

Wird die PKK den bewaffneten Kampf aufgeben?
Gespräch mit Abdullah Öcalan, Vorsitzender der PKK

F: Was erwarten Sie von Italien, jetzt, da Europa sich anschickt, eine Entscheidung zu treffen?
Daß Italien sich verpflichtet, die Frage von Türkisch- Kurdistan nach Europa zu tragen. Das wäre ein historischer Schritt. Ich wiederhole, daß die Regierung nicht auf unsere Ankunft vorbereitet war. Sie war noch zu neu. Und auch wir waren überstürzt. Aber all das darf nicht verhindern, die wichtigen Entscheidungen für eine politische Lösung der Kurden-Frage zu treffen, die mittlerweile eine europäische Frage geworden ist. Auf europäischer Ebene fehlt die Umsetzung eines bereits erklärten politischen Willens. Die italienische Regierung muß jetzt Druck ausüben, damit ganz Europa seine Verantwortung übernimmt.
F: Halten Sie im Falle eines internationalen Prozesses gegen Sie Italien oder ein »neues« Land mit einer europäischen Institution für geeigneter?
Ich will hier unterstreichen, daß noch nicht klar ist, ob es zu einem internationalen Prozeß kommt. Wenn das jedoch die Lösung sein sollte, ist Italien der richtige Ort. Klar ist jedenfalls, daß wir an einen internationalen Prozeß als Moment der Wahrheit denken.  Seit 75 Jahren sind die Verbrechen der Türkei bekannt, und sie müssen in aller Schärfe verurteilt werden. Vier Völker der Region waren Opfer eines Völkermordes. Daß man mich heute als »gefährlichsten Terroristen der Welt« bezeichnet, will nur die Tatsache verdecken, daß der Völkermord andauert. Die türkische Regierung will dies in einem Prozeß gegen mich verheimlichen. Wir wollen ihn, damit die Wahrheit zutage kommt. Deshalb wollen wir einen Prozeß, der die Kriegsverbrechen gegen ein Volk behandelt.  Ein Prozeß, der dem Recht des antiken Roms würdig ist.
F: In diesen Tagen bereiten Sie den Parteitag der PKK vor. Wird es der Parteitag der Wende sein, der den Verzicht auf den bewaffneten Kampf und die Forderung politischer Autonomie Türkisch-Kurdistans ankündigt, anstatt der alten nationalistisch-separatistischen Forderung?
Heute abend (Freitag - jW) werde ich in Med-TV, dem kurdischen Fernsehen in Europa, noch radikalere und risikoreichere Erklärungen abgeben. Ich fürchte sogar, nicht verstanden oder mißverstanden zu werden. Tatsächlich ist der Wandel, an den ich denke, im Moment nicht an die Frage des bewaffneten Kampfes gebunden. Ich mache mir den Kopf über eine neue Beziehung zwischen mir und der PKK-Bewegung. Auf der Tagesordnung steht das Problem einer Restrukturierung der PKK. Für eine neue Linie und eine neue Rolle der Partei müssen wir eine noch nicht dagewesene Wende vollziehen.  Deshalb gebe ich den Vorsitz der PKK auf. Jedoch um neu zu beginnen. Ich will nicht mißverstanden werden. Ich entscheide, den Vorsitz der Partei abzulegen in einem Moment, in dem die PKK so vereint ist wie nie zuvor.
Aber für jede Wende bedarf es eines neuen Anfangs. Ich will das Gewicht, das ich auf den Schultern trage, mit dem Zentralkomitee, mit den Funktionären, mit dem kurdischen Volk teilen, weil alle reif sind, dieses Gewicht zu tragen. Ich denke, daß ich mich von der PKK entferne und die Aufgabe, sich mit der Fortsetzung des Kampfes vor Ort zu beschäftigen, unserem Führungsstab überlasse.  Auch um viele der internationalen Komplotte gegen uns aufzudecken.
Um eine persönliche internationale Rolle wirklich gut spielen zu können, muß ich auch frei von vielen Verantwortungen und Aufgaben sein. So werde ich mehr zu einer politischen Lösung unserer Krise beitragen. Innerhalb unserer Organisation wird es eine antibürokratische Erneuerung geben, die darauf abzielt, die Funktionäre mehr in Kontakt mit der Gesellschaft, mit dem Kampf zu bringen. Die Idee des realen Sozialismus - zuerst die Partei, dann der Staat und dann der Mensch- wird aufgegeben. Das heißt, ich stelle mich selbst in diesem Moment völlig in Frage. Ich erwarte, daß auch unsere Feinde, das türkische Regime, ihre Verantwortung für eine politische Lösung bis zum äußersten übernehmen. Was den bewaffneten Kampf anbelangt, wird es keine Wende geben, wenn es keinen Dialog und keinen realen Friedensprozeß gibt.
F: Sie haben gesagt, daß Sie die kurdische Bewegung als einen »Pfeiler der türkischen Demokratie« ansehen, und haben oft an das Negativbeispiel des jugoslawischen Desasters erinnert. Glauben Sie nicht, daß der ethnische Nationalismus mittlerweile eine große Schranke für Befreiungs- und Demokratisierungsprozesse der Völker darstellt?
Ja, meine Herangehensweise unterscheidet sich von der nationalen Frage. Die Wirklichkeit des Krieges in Jugoslawien hat die Verbrechen des Nationalismus deutlich aufgezeigt. Aber ich werde sicherlich auch nicht die Verantwortlichkeiten der ehemaligen UdSSR vergessen mit ihrem Chauvinismus einer großen Nation gegenüber den kleinen Völkern. Das war einer der Faktoren, der zum Zusammenbruch des realen Sozialismus geführt hat. Eine Lösung, die sich auf den Nationalismus gründet, ist keine Lösung. Es ist genau das Gegenteil. Nationalismus ist nicht unser Weg, weder politisch noch ideologisch. Und vor allem im Mittleren Osten ist diese Lösung nicht seiner Geschichte würdig: große Religionen, Sprachen, Traditionen, Kulturen, Völker, strukturell multi-ethnisch. Ich denke deshalb an einen breiten Demokratisierungsprozeß von unten, der es all diesen Völkern erlaubt, sich gemeinsam zu entwickeln.  Das ist eine föderative Lösung, vorausgesetzt, daß es nicht zur Groteske verkommt. Der Nationalismus ist der Rebus unserer Epoche.  Er trennt die Völker voneinander, statt sie einander anzunähern.  Eine sozialistische Idee kann mit Beginn des neuen Jahrtausends nicht entwickelt werden, ohne den Nationalismus zu bekämpfen, der ein Ergebnis der Geschichte des Kapitalismus ist. Ich möchte jedoch hinzufügen, daß es ein gleiche und entgegengesetzte Gefahr gibt:
Die derzeitige kosmopolitische Ideologie des Marktes und die Phase der Globalisierung der neuen politisch- wirtschaftlichen Imperien.  In Ex-Jugoslawien haben sich die beiden Pole, die sich gegenüberstanden, vereinigt und gegenseitig unterstützt.
F: In diesen Tagen waren Sie in Ihrer Residenz in Rom Objekt von Ermittlungen französischer Richter, die Sie selbst als Verfolgung bezeichnet haben. Was steckt Ihrer Meinung nach hinter den Untersuchungen?
Ja, Mittwoch morgen haben sie eine seltsame Durchsuchung durchgeführt. Ich zögere nicht, sie als respektlos zu bezeichnen.  Es wurde gesagt, daß die italienische Regierung nichts davon wußte, noch wußte man, wer sie angeordnet hat. So wie sie abgelaufen ist, glaube ich nicht, daß der Richter die Durchsuchung mit dem in Frankreich eingeleiteten Prozeß in Verbindung bringen wollte. Es erschien mir so, als ob man mich in flagranti erwischen wollte.  Deshalb habe ich protestiert, weil ich dahinter den Schatten zukünftiger Entwicklungen ausmache. (...)
F: Wie beurteilen Sie die Tatsache, daß die türkische Regierung aufgrund der Übermacht der Mafia gestürzt ist und daß die neue Regierung Ecevits ganze Werbeseiten in italienischen Zeitungen kauft, um die PKK zu beschuldigen, sich aus den Erlösen von Drogenschmuggel zu finanzieren?
Sie versuchen, die Massenmedien und die italienische Innenpolitik da mit reinzuziehen. Gerade die großen Industriellen und türkischen Händler. Ich denke, daß die italienische Politik - ich spreche nicht nur von der Linken, ich denke auch an das Zentrum und an die Rechte- dennoch ein derartiges Niveau hat, daß sie keine Erpressungen akzeptieren kann. Aber diese Lügenkampagne muß ein Ende finden.
Um abzuschließen will ich hinzufügen, daß mein Fall nicht als Fall interner Innenpolitik instrumentalisiert werden darf: Er geht die ganze italienische Demokratie und die europäische Demokratie an.  Einseitige Herangehensweisen sind nicht geeignet. Angesichts des aktiven Handelns der Regierung und der Debatten im italienischen Parlament will ich das Verhalten des Ministerpräsidenten Massimo D’Alema lobend herausstreichen, wie auch immer diese Angelegenheit schließlich ausgeht. Seine Politik ist korrekt und verdient meinen ganzen Respekt.
Interview: Il Manifesto, Rom
(11. Dezember 1998 / Übersetzung: Cyrus Salimi-Asl)