Neue Züricher Zeitung 24.12.98

Starre Position Ankaras im Kurdenkonflikt
Fehlende Bereitschaft zum Dialog - Kritik am Westen

Seit der Flucht des Kurdenchefs Abdullah Öcalan nach Italien ist in der Türkei eine sachliche Diskussion über die Kurdenfrage noch schwieriger geworden. Verschwörungstheorien machen in Ankara die Runde und verstärken die alten Ängste der türkischen Bevölkerung, Europa wolle, genauso wie vor einem Jahrhundert, das Land spalten.

it. Ankara, Mitte Dezember
Der türkische Justizminister, Hasan Denizkurdu, kann seine europäischen Kollegen bei der Handhabung des Falls Öcalan nicht mehr verstehen. Deutschland stelle einen internationalen Haftbefehl aus, weigere sich dann aber, den Gesuchten zu übernehmen, sagt er verwundert im Gespräch. Rom habe gegenüber Ankara bestätigt, Öcalan sei verhaftet worden, um ihn an Deutschland auszuliefern.
Anstatt das Verfahren der Auslieferung in Gang zu setzen, werde in Rom darüber debattiert, ob dem Terroristen Öcalan politisches Asyl gewährt oder ob ihm der Prozess vor einem internationalen Gericht gemacht werden solle. Aus Sicht der Türkei haben beide Nato-Alliierten im Fall Öcalan versagt.

Notwendigkeit einer Rechtsreform
Der Justizminister bezeichnet die Auslieferung Öcalans an die Türkei als einzige akzeptable Lösung. Öcalan sei als Kopf der Terrororganisation Kurdische Arbeiterpartei (PKK) für den Tod von 30 000 Personen verantwortlich. Einen Prozess gegen Öcalan vor einem internationalen Gericht lehnt der Justizminister ab. Weder er noch das türkische Volk hätten Vertrauen in ein internationales Gericht. Das Argument, dass die italienische Verfassung die Auslieferung in ein Land untersagt, in dem die Todesstrafe verhängt wird, will er nicht gelten lassen. Die türkische Regierung könne garantieren, dass die Todesstrafe gegen Öcalan nicht vollstreckt werde. Dieses Versprechen sollte Rom eigentlich genügen.
Die Stimme des Justizministers wird schärfer, sobald das Gespräch auf die kurdische Bevölkerung kommt. In der Türkei gebe es kein Problem zwischen Türken und Kurden, behauptet er. Der Parlamentspräsident, Hikmet Cetin, sei ein Kurde und der vorherige Staatspräsident, Turgut Özal, habe kurdische Wurzeln gehabt. Zudem gebe es zahlreiche gemischte Ehen zwischen Kurden und Türken. Dass die Kurden hohe Posten im Staat nur dann erhalten, wenn sie ihre eigene Kultur verleugnen und dass Artikel 81 der Verfassung eine andere ethnische Identität ausser der türkischen nicht zulässt, übergeht der Minister. In der Türkei gebe es nur ein einziges Problem, nämlich die Existenz einer separatistischen Bewegung, die das Land spalten wolle, sagt Denizkurdu. Dann verliert er sich für kurze Zeit in Verschwörungstheorien, die in dieser Zeit der tiefen sozialen und politischen Krise in Ankara wieder salonfähig sind. Die «Kurdistan-Idee» sei in den Köpfen einiger «westlicher Freunde» entstanden, die eine starke Türkei aus strategischen Gründen in dieser Region nicht wünschten, betont er.
Die Äusserungen des Justizministers mögen die Erwartungen europäischer Politiker enttäuschen. In der Türkei ist Denizkurdu aber kein Falke; ganz im Gegenteil. Der ehemalige Abgeordnete der konservativen Partei des Rechten Weges, der heute parteiunabhängig ist, gehört zu jenen Reformern, die darauf drängen, das türkische Rechtswesen zu europäisieren, um auf diese Weise die grossen sozialen Probleme des Landes zu entschärfen. Zu seinen Visionen gehört etwa eine neue Verfassung. Von der Modernisierung des Straf- und Zivilgesetzes verspricht er sich zudem, dass die Unabhängigkeit der Justiz sowie die Meinungsfreiheit gewährleistet werden. Erst die Reform des Rechtswesens werde eine Lösung für die Probleme aller Bürger bringen, auch für jene der Kurden.

Europas historische Krankheit
Der Generalsekretär der regierenden konservativen Mutterlandspartei (Anap), Erkan Mumcu, lehnt sich in seinen Ledersessel zurück, als wolle er seine Wut über die Frage nach einer akzeptablen politischen Lösung des Kurdenkonflikts verbergen. Es mache ihn traurig, von Westeuropäern dauernd als Menschenfresser angesehen zu werden, welcher nötigenfalls auch mit Gewalt zivilisiert werden müsse, sagte der 35jährige Politiker. Europa definiere sich gerne als ein Herrschaftszentrum, das nichtchristlichen Ländern seine Vorstellungen von Demokratie, Menschenrechten und moderner Staatsführung aufzwingen könne. Es handle sich dabei um eine «historische Krankheit» Europas.
Von einer Kurdenfrage in der Türkei will auch Mumcu nichts wissen. Anatolien sei von alters her ein Schmelztiegel verschiedenster Völker. Da hätten Kurden, Türken und Tschetschenen über tausend Jahre friedlich miteinander gelebt. Streitigkeiten zwischen ihnen seien erst aufgekommen, als um die Jahrhundertwende die damaligen europäischen Mächte die ethnischen Unterschiede politisch instrumentalisiert hätten. Dass der erste Aufstand in der kurdischen Region 1925 ausbrach, als Ankara und London um die ölreichen Provinzen Kirkuk und Mossul verhandelten, ist für den konservativen Politiker kein Zufall. Er hegt den Verdacht, Europa wolle mittels der sogenannten politischen Lösung der Kurdenfrage die Türkei spalten. Die Europäer akzeptierten einerseits eine Terrororganisation als politischen Gesprächspartner und verlangten anderseits von der Türkei die Einhaltung der Menschenrechte, empört sich Mumcu. Der Fall Öcalan hat die Distanz der türkischen Konservativen zu Europa unübersehbar vergrössert.
Die fünf grössten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände des Landes werden im Volksmund «die fünf Reiter der Apokalypse» genannt, nachdem sie als zivile Organisationen den von der Armeeführung initiierten Sturz der proislamistischen Regierung Erbakan mit Streiks und Demonstrationen mitgetragen hatten. In der Türkei gebe es keine Türken- oder Kurdenfrage, sagt auch der Gewerkschaftsführer Semsi Denizer. Öcalan sei ein Mörder; er sei verantwortlich für den Tod von 30 000 Personen, wiederholt er die offizielle Verlautbarung. Laut der offiziellen Statistik aus dem Büro des Gouverneurs im Gebiet des Ausnahmezustands sind in den letzten 14 Jahren 30 046 Personen umgekommen. Zwei Drittel von ihnen waren Mitglieder der PKK und wurden von den Sicherheitskräften getötet. Ferner fielen 4399 Zivilisten dem schmutzigen Krieg zum Opfer. Rund 700 von ihnen gehen auf die Rechnung der PKK. Wer die übrige Morde verübt hat, ist ungeklärt. Diese Angaben scheinen aber den Justizminister, den Generalsekretär der Anap, den Gewerkschaftsführer und den Grossteil der türkischen Bevölkerung nicht zu interessieren.
Die Debatte, ob sich die Türkei für eine Mitgliedschaft in der EU eigne, störe die türkischen Gewerkschaften sehr, sagte Denizer weiter. Die Türkei sei ein demokratisches Land, das sich von den übrigen europäischen Ländern nur in Nuancen unterscheide. Die Europäer sollten realisieren, das die Türkei auf Europa nicht angewiesen sei. Die Türkei sei längst in der Region des Nahen Ostens, des Kaukasus und auf dem Balkan selbst zu einem Machtfaktor geworden.

Das «osmanische Syndrom»
Der islamistische Intellektuelle Ismail Nacar zeigt sich angesichts der jüngsten Entwicklungen pessimistisch. Sowohl die Behörden als auch die Bevölkerung würden jedem, der eine politische Lösung der Kurdenfrage fordere, böswillige Absichten unterstellen. Die türkische Gesellschaft sei davon überzeugt, dass der Westen Pläne schmiede, um aus Öcalan einen zweiten Arafat zu machen. Unter dem Motto, im Islam seien alle Volksgruppen gleichwertig, schienen die Islamisten zeitweilig eine Art Alternative für die verfolgten Kurden zu bieten. Nacar war Mitte der neunziger Jahre gar von der Regierung gebeten worden, zwischen Ankara und den Kurden zu verhandeln. «Wir sind in jeder Hinsicht die Erben des grossen osmanischen Reiches, das Anfang dieses Jahrhunderts in die Brüche gegangen ist», erläutert Nacar die Unfähigkeit der Gesellschaft, eine Lösung für den bewaffneten Konflikt zu finden. Der Zusammenbruch werde auf ein einziges Ereignis zurückgeführt, nämlich auf den berüchtigten Friedensvertrag von Sèvres von 1920. Dieser hatte unter anderem die Gründung eines kurdischen und eines armenischen Kleinstaates auf dem Territorium des auseinandergebrochenen Osmanischen Reiches vorgesehen. Der Vertrag von Sèvres werde heute erneut als Trauma und als Drohung empfunden, wobei die Gesellschaft Abwehrmechanismen entwickle und jeden Weg zu einem Dialog versperre.
Der linke Herausgeber Ragip Zarakolu geht mit Ankara sehr viel härter ins Gericht, wenn er diese Unfähigkeit zum Dialog zu erklären versucht. Die Politik Ankaras sei vom «osmanischen Syndrom» durchdrungen, nämlich von der falschen Annahme, alle Probleme liessen sich unter Einsatz von Brachialgewalt lösen. Heutzutage nenne man es die «militärische Lösung der Kurdenfrage». Um die Wende des letzten Jahrhunderts hätten die Osmanen jede Reform- und Nationalbewegung in den von ihnen beherrschten Territorien blutig niedergeschlagen. Später liess die Republik jeden Versuch, die Vergangenheit zu bewältigen und etwa die «armenische Tragödie» zu verstehen, im Keim ersticken. Das Bild vom böswilligen Ausland, das nach der Teilung der Türkei trachte, sei vom Staat bewusst gepflegt worden. So sei heute ein Dialog mit Öcalan, dieser «Marionette des Westens», absolut undenkbar.