Berliner Zeitung 10.12.98

Gerechtigkeit auf Anfrage in Straßburg
Die Arbeit des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs
Von Joachim Widmann

STRASSBURG, im Dezember. Im Fall Leyla Zanas hat die Türkei gegen die europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, urteilte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Die Türkei zahlte ohne Verzug eine Entschädigung. Sie hat auch hingenommen, daß das Ausradieren kurdischer Dörfer, überlanges Polizeigewahrsam und Folter nach Ansicht des Gerichts gegen die Grundsätze verstoßen, die jedes Mitglied des Europarates zu respektieren garantiert.  Doch sitzt die kurdische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin Zana noch immer als „Terroristin“ im Gefängnis, in Kurdistan herrscht Gewalt, und Häftlinge bleiben der Willkür ausgesetzt.
„Es besteht kein Anlaß zu mangelnder Befriedigung über die Dinge, die wir erreichen können“, meint der Präsident des Menschenrechtsgerichtshofs, Luzius Wildhaber. Von seinem lichtdurchfluteten Büro im futuristischen Palais des Droits de l’Homme aus leitet der Schweizer ein Gericht ohne Exekutive. Der Straßburger Gerichtshof kommt dennoch als einzige internationale Instanz der Vision eines Weltgerichts zur Durchsetzung der Menschenrechte nahe.  Wer in einem der 40 Mitgliedsländer des Europarates nicht sein Recht bekommt, kann in Straßburg Beschwerde führen.
Wird deshalb etwa in der Türkei weniger gefoltert?  „Selbstkritikfähigkeit müssen wir unbedingt haben“, räumt Wildhaber ein. Die Urteile des Gerichts sind zwar bindend. Tausende Kläger erhielten Entschädigungen; viele Länder, darunter Deutschland, mußten sich von Rechtsnormen verabschieden, die gegen die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 verstoßen hatten.  Doch da die Straßburger Richter nur auf Antrag tätig werden können, haben sie nur eine sehr durchlässige Barriere gegen die Verletzung von Menschenrechten errichten können.
Gemeinsame Prinzipien
Wie die UN-Deklaration der Menschenrechte von 1948 war die Europäische Menschenrechtskonvention vom „Nie wieder!“ der unmittelbaren Nachkriegszeit motiviert.  Der Europarat wurde 1949 als institutionalisierte diplomatische Alternative zu bewaffneten Konflikten gegründet. Seine Konventionen, rund 150, haben viele politische Kontroversen gelöst, indem sich die Europarats-Mitglieder auf gemeinsame Prinzipien einigten.  Der Rat hat keinen Vorsitzenden und keine Macht, die Konventionen durchzusetzen. Strafen kann er nur durch Ausschluß. Er hat noch nie zu diesem Mittel gegriffen.
Diplomatie braucht Zeit. „Wir können nicht alles auf einmal tun, und es ist aufs Ganze gesehen wohl besser, wenn wir nicht versuchen, alles auf einmal zu verbessern:
So können alle unsere Urteile mittragen“, beschreibt Wildhaber den Beitrag des Gerichts zur Mission des Europarats. Der Richter setzt auf dieses Prinzip: „Letzten Endes halten wir die große Linie ein. Es wäre auch beleidigend für die Staaten, wenn wir sie in Kategorien einteilen würden und etwa sagten, bei euch da müssen die Gefängnisse nicht so gut ausgestattet sein...“