Frankfurter Rundschau 10.12.98

„Wir brauchen keine Vermittler“
Das Interview: Der türkische Vizepremier Ecevit über den Fall Öcalan
Seit der Verhaftung von Abdullah Öcalan in Rom ist das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland beziehungsweise der EU gespannt. Ankara drängt weiter auf die Auslieferung des PKK-Chefs, dem die Türkei nach den Worten von Vize-Premier Bülent Ecevit ein faires Verfahren garantiert. Mit Ecevit sprach Mehmet Canbolat, Herausgeber der türkischsprachigen Zeitung Rhein-Main Toplum, über die jüngste Entwicklung.
M. Canbolat: Nach Öcalans Verhaftung hat Deutschland sich trotz eines internationalen Haftbefehls geweitert, einen Auslieferungsantrag zu stellen. Wie kommentieren Sie diese Entscheidung?
Bülent Ecevit: Wir sind sehr traurig und halten es für inakzeptabel, daß Deutschland sich weigert, Öcalan den Prozeß zu machen, offensichtlich aus Gründen der inneren Sicherheit. Aber solche Überlegungen sollten die Funktionstüchtigkeit der Justiz nicht beeinträchtigen.
Der deutsche Außenminister Fischer und sein italienischer Amtskollege Dini befürworten die Idee einer europäischen Initiative in dieser Frage. Würde das die Lösung bringen?
Hier handelt es sich um ein internes Problem der Türkei. Solange sich Außenstehende einmischen, könnte ein ernsthaftes Problem daraus werden, aber wir werden nicht zulassen, daß andere Länder sich in unsere innere Angelegenheiten einmischen. Wir sind ein demokratisches Land.  Wir waren schon immer empfindlich, wenn es um unsere Unabhängigkeit geht, und ich bin erstaunt, daß Deutschland unter den Initiatoren dieser Idee ist, der Türkei Bedingungen in Bezug auf ihre Bürger zu stellen. Denn ursprünglich war es die Idee der westlichen Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg, die Türkei zu spalten. Deutschland war damals nicht dazu bereit. Aber jetzt scheint Deutschland die Initiative übernehmen zu wollen, was ich auch in Bezug auf unsere historischen guten Beziehungen sehr traurig finde.
Fischer zielte doch wohl weniger darauf ab, sich in die inneren Angelegenheiten der Türkei einzumischen als vielmehr eine Vermittlerrolle zu übernehmen.
Ehrlich gesagt, brauchen wir keine wie auch immer geartete Vermittlung, um unsere internen Probleme zu lösen.
Ist der Fall Öcalan der Grund dafür, daß die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU, gelinde gesagt, belastet sind?
Nein, dafür gibt es viele Gründe: zum einen die Unterstützung, die einige Kreise in Westeuropa einer separatistischen Bewegung geben, und zum anderen die negative Einstellung der EU in Bezug auf die von der Türkei angestrebte EU-Vollmitgliedschaft. Dinge dieser Art haben natürlich Enttäuschung hervorgerufen.
Führt diese Enttäuschung in eine Einbahnstraße oder sehen Sie die Chance für neue Gespräche?
Nun, die Gespräche werden bereits fortgesetzt, aber sie führen momentan zu nichts. Wir haben den Eindruck, daß einige EU-Länder versuchen, politische Bedingungen an die Türkei zu stellen, die für uns inakzeptabel sind, etwa in Bezug auf Zypern, die Autonomie in der Südost-Türkei oder unsere Beziehungen zu Griechenland. All das hat sich angesammelt, aber wir wollen keine Einmischung anderer Länder in unsere inneren Angelegenheiten. Wir sind reif genug, um unsere Probleme selbst zu lösen.  Aber andererseits wollen wir unsere bilateralen Beziehungen zu keinem europäischen Land abbrechen. Zu Deutschland haben wir beispielweise wichtige Bindungen, die bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückreichen. Derzeit leben sehr viele Türken in Deutschland, und eine wachsende Anzahl früherer türkischer Arbeitnehmer ist in Deutschland zu sehr erfolgreichen Arbeitgebern geworden. Wir haben zwischen unseren beiden Ländern auch eine starke wirtschaftliche Zusammenarbeit. Daher sollte unsere Enttäuschung in Bezug auf die Europäische Union und ihre mangelnde Bereitschaft, die Türkei als Mitgliedskandidat zu akzeptieren, uns nicht daran hindern, unsere Beziehungen zu EU-Ländern fortzusetzen.
Glauben Sie, daß sich unter der neuen rot-grünen Bundesregierung das Verhältnis zur Türkei verbessern wird?
Ich hoffe es, zumindest gibt es Anzeichen, die unseren Optimismus schüren, jetzt, wo in Deutschland die Sozialdemokraten wieder an der Regierung sind. Aber wenn politische Restriktionen an eine offenere Haltung bezüglich der EU-Mitgliedschaft der Türkei geknüpft sein sollten, ist dies für uns nicht akzeptabel.