Berliner Zeitung 9.12.98
Hundert Quadratmeter Kurdistan
In einer streng abgeschirmten römischen Villa wartet Abdullah Öcalan, ob er vor ein internationales Gericht gestellt wird
Von Thomas Götz

ROM, im Dezember. „Kurdistan“ steht auf dem Klingelknopf im sechsten Stock eines Mietshauses in der Via Ricasoli. Vor dem Haus parken zwei Polizeiautos.  Wer nach dem Kurdenzentrum fragt, muß sich ausweisen, ja rechtfertigen. Dann erst gelangt der Besucher zur schlichten braunen Tür, die nach gutem Tischlerhandwerk aussieht. Geht sie auf, kommt die dicke Panzerung zum Vorschein, die 100 Quadratmeter „Kurdistan“ vom Rest der Welt trennt.
Im verrauchten Vorzimmer hängt eine Karte des fiktiven Landes. Sie wurde in Berlin gedruckt und vermittelt klare Vorstellungen von Grenzen, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Fast bis auf die Höhe von Kuwait tastet sich der dicke rote Strich auf der Karte hinunter, im Norden fehlt nicht viel bis zum armenischen Erewan. Auf der Pinnwand neben der Panzertür hängen Ansichtskarten: „Saluti dal Kurdistan“ steht geschrieben unter einem Kindergesicht.  Es lacht nicht. Senfgas hat die Augen des Jungen zerstört.
Das Büro der „Nationalen Befreiungsfront Kurdistans“ ERNK ist Abdullah Öcalans einzige Verbindung zur Außenwelt, seit es die „Piazza Kurdistan“ nicht mehr gibt.  Kurdistanplatz heißt heute im Journalistenjargon das Gelände vor dem Militärkrankenhaus auf dem Celio-Hügel in Rom. Dort hatten fast zwei Wochen lang die aus dem Norden angereisten PKK-Sympathisanten ihr Lager aufgeschlagen, um für ihren inhaftierten Parteichef zu demonstrieren. Nach der Verhaftung Öcalans am 12. November waren sie in Busse gestiegen und ohne weitere Vorkehrungen nach Rom gefahren.  Freiwillige Helfer und Nachbarn brachten ihnen Decken, Tee und Pasta während der frostigen Novembertage und -nächte.
Die ERNK ist die „Massenorganisation“ der PKK, erklärt der Büroleiter Mehmet Balci. Massen von Kurden gibt es in Italien nicht, etwa 8 000 zählt die kleine Gemeinde.  Über das Büro laufen die Kontakte zu den Stützpunkten der Partei in den anderen Ländern. Seit ein paar Tagen haben die italienischen Kurden Verstärkung aus Deutschland. Emin Kaya, der die Interessen der PKK in Deutschland vertritt, kam aus Köln: „Sie waren etwas überlastet hier“, erklärt er die Aushilfe.
Außerhalb des Büros scheint es den „Fall Öcalan“ nicht zu geben. Die öffentliche Erregung der ersten Wochen ist verflogen, die italienische Opposition hat sich anderen Themen zugewandt. Zumal der 8. Dezember, das Fest der Unbefleckten Empfängnis Mariens, ein wichtiger Feiertag in Italien ist. Wer konnte, ist über das lange Wochenende aus Rom geflohen. Schlechte Tage, um Politik zu machen.
Am Wochenende hat Öcalan beschlossen, den europäischen Gesprächsreigen über die Installation eines internationalen Gerichts zur Behandlung seines Falls mit einer Presseoffensive zu beginnen. Er lud eine Handvoll italienischer Journalisten und die Agentur Reuters in seinen schwerbewachten Wohnsitz am Stadtrand Roms, warf sich in Zivil und diktierte ihnen seine Vorstellungen von einem Prozeß, der die Türkei und Deutschland neben ihm auf die Anklagebank bringen sollte; für ihre Kriegsverbrechen die einen, die anderen für ihre Waffenlieferungen. Es gab kaum ein Echo in Rom.
Im „Höllchen“
Nur an der Via Malé ist von der Feiertagsruhe nichts zu bemerken. Frierend steht ein halbes Dutzend Polizisten um ein paar Dienstwagen, welche die Einfahrt zur Wohnstraße blockieren. Weitab, den Blicken der Neugierigen entzogen, liegt die Villa, die Freunde für Öcalan angemietet haben. Ein dreistöckiges Haus mit Garten, geschützt vor allem von der wohlanständigen Umgebung; Einfamilienhäuser von Leuten, die eine ruhige Wohnung gesucht haben. Daß einst der König zu den Nachbarn zählte und nun der Staatspräsident nebenan seinen Sommersitz hat, sprach für die Lage, auch wenn die Gegend einen unwirtlichen Namen trägt: „Infernetto“, „Höllchen“ heißt die Gegend. Trüge der Name des Weges nicht einen Akzent, die Wohnung Öcalans läge zu allem Überfluß noch in der Straße des Bösen.
Die Ruhe ist hin in der Via Malé. Wer zu seinem Haus will, muß sich ausweisen und durchsuchen lassen. „Eine peruanische Alitalia-Stewardeß hat es besonders schwer“, erzählt Enzo Massari, der in der Nähe einen Gemischtwarenladen führt. Aufgrund der Hautfarbe werde sie genauer beobachtet als die anderen Nachbarn.  Vor Massaris Laden kreuzen Polizeipatrouillen, ihren Kaffee holen sie sich in der Bar gegenüber. Wie lange noch? Der Diensthabende denkt nicht lange nach: „Ich wäre froh, wenn sie ihn heute Nacht wegbrächten“, sagt er.
Daß Öcalan nach Italien gekommen ist, liegt in erster Linie an der Zusammensetzung der Regierung. Ein deklarierter Kommunist ist Justizminister einige Abgeordnete von Rifondazione Comunista hatten Öcalan sogar in seinem syrischen Exil besucht. Einer von ihnen begleitete ihn später von Moskau nach Rom. Daß italienische Parlamentarier aller Couleur das kurdische Exilparlament im Herbst zu einer Begegnung in den Räumen des italienischen Parlaments geladen hatten, verstärkte noch den Eindruck, in ein befreundetes Land zu kommen. Doch auch abseits der linken Sphäre der Politik überwiegen die Sympathien für die kurdische Sache die Skepsis gegenüber dem PKK-Führer.
Etwa eine Million Italiener sind im sogenannten „Volontariato“ organisiert, in Organisationen, deren Mitglieder ihre Freizeit irgendeinem guten Zweck verschrieben haben. Auf der Seite der Schwächeren zu stehen, in diesem Fall also der Kurden, versteht sich für solche Gruppen von selbst. Die türkische Strategie, Kurden mit der PKK zu identifizieren um ihren Kampf zu diskreditieren, hilft nun paradoxerweise der PKK und erweist sich für Ankara als Bumerang.
„Entweder man ist für die Regierung oder für die PKK“, beschreibt Dino Frisullo die Alternative, vor die sich türkische Kurden gestellt sehen. Dino Frisullo weiß besser als andere, wovon er spricht, wenn es um Kurden und ihre Behandlung in der Türkei geht. Als Teilnehmer an einer Demonstration wurde der italienische Aktivist im Sommer in der Türkei verhaftet und mit 35 Kriminellen gemeinsam in einer Zelle gesteckt. „Die Regierung wollte an mir ein Exempel statuieren“, erzählt der Sekretär der Menschenrechtsorganisation „Senza Confine“ (Grenzenlos). Daß sich die italienische Regierung für ihn eingesetzt hat, dürfte ihm zwei bis drei Jahre verschärfter Haft erspart haben, glaubt Frisullo. „Einen Tag vor dem Prozeß kam ich frei.“
Eine Anzeigenkampagne
Ganz wirkungslos blieben die Bemühungen der türkischen Regierungen freilich nicht. Gleich nach Öcalans Landung in Rom publizierten italienische Zeitungen Auszüge aus einer amerikanischen Drogenstudie, die enge Verbindungen zwischen PKK und dem Drogengeschäft in Europa herstellt. Die Regierung Yilmaz half noch nach.
Eine teure Anzeigenkampagne in italienischen Medien zeigt ein Kind, bedroht von einer Heroinspritze: „Wenn wir den Terrorismus stoppen, können wir diese Spritze aufhalten“, verrät der Text, dessen ganzseitige Publikation türkische Handels- und Industrieverbände bezahlen.  Triumphierend halten italienische Sympathisanten dem ein deutsches Dokument entgegen, das Zweifel an diesen Vorwürfen anmeldet. Das Papier stammt vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden, relativitiert diese Anschuldigungen gegen die PKK und beschuldigt die türkische Regierung der Instrumentalisierung des Themas Drogenhandel. Der „Rauschgiftkurier“, eine regelmäßig erscheinende interne Publikation der Abteilung „Allgemeine und Organisierte Kriminalität“ des BKA befaßte sich 1997 mit dem Drogenhandel aus der Türkei.  „Die türkischen Behörden sind stets darum bemüht, Bezüge der PKK zum RG-Handel herzustellen“, schreibt das BKA. „Das führt soweit, daß bei jeder Sicherstellung, mag sie auch noch so klein sein, ein Zusammenhang mit der PKK behauptet wird, auch wenn dieses nicht klar und eindeutig belegt werden kann.“
Wohl profitiere die PKK indirekt vom Rauschgifthandel, da reichen Dealern höhere „Spenden“ für die Partei abverlangt würden. Daraus ließe sich allerdings bloß schließen, daß die PKK über den Handel Bescheid wissen müsse. „Eine gezielte Steuerung von Rauschgiftgeschäften zum Zwecke der Finanzierung der eigenen Organisation durch PKK-Führungskader konnte bisher jedoch in keinem Fall nachgewiesen werden“, steht in dem Bericht.
Derzeit gibt es jedoch vordringlichere Sorgen als die Zerstreuung dieser nicht nur amerikanischen Vorbehalte:
Am Montag ist ein französischer Richter mit einem italienischen Kollegen ohne Vorankündigung im „Infernetto“ aufgetaucht. Drei Stunden lang ließ er die Wohnung Öcalans durchsuchen, Telefonnummern beschlagnahmen, Notizen und Aufzeichnungen. Er sucht nach Indizien, daß Öcalan französische Kurden zur Erpressung von Spendengeldern ermuntert haben soll.  Das ERNK sieht in dem Besuch ein Störmanöver in der heiklen Entscheidungsphase über den internationalen Gerichtshof. Für sie ist der Richter schlicht „ein Feind der Kurden“. Bürochef Mehmet Balci spricht von einer „politischen Attacke“.
Europa wirft er vor, außer der Verfassung von Resolutionen nichts zur Lösung des Kurdenproblems beigetragen zu haben. „Sie haben nie ernsthaft versucht, Druck auf die Türkei auszuüben“, zum Schutz der eigenen Interessen. „Diese Politik ist gescheitert“, sagt Balci und schaut zur PKK-Fahne, die schlaff vom Balkon baumelt.  Kurdistan mißt 100 Quadratmeter.