Frankfurter Rundschau, 28.11.1998

Stoff für einen neuen Anzug
Im Blickpunkt: Koalitionssuche in Ankara
Von Gerd Höhler (Athen)
Voraussichtlich an diesem Wochenende wird der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung erteilen - an wen, ist noch offen. Der 74jährige, selber siebenmal Ministerpräsident, gilt als gewiefter Taktiker.
„Baba“, der Vater, wie ihn die Türken nennen, muß wieder einmal sein Geschick beweisen und einen Ausweg aus der innenpolitischen Krise finden, in die das Land mit dem Sturz der Regierung von Mesut Yilmaz geraten ist.
„Mal sehen, welchen Anzug ich aus diesem Stoff schneidern kann“, sagte Demirel gelassen, als er am Donnerstag, wenige Stunden nach dem Mißtrauensvotum gegen Yilmaz, seine Sondierungen begann. Aber leicht wird es nicht, im gegenwärtigen Parlament eine Regierungsmehrheit zusammenzubringen. Auf zehn Parteien verteilen sich die 550 Sitze, keine hat eine absolute Mehrheit. Die stärkste Fraktion ist die der islamistischen Tugend-Partei (FP). Eigentlich wäre ihr Führer Recai Kutan, der parlamentarischen Tradition zufolge, an der Reihe, ein Regierungsbildung zu versuchen. Aber daß Demirel ihm den Auftrag erteilt, ist unwahrscheinlich, denn das könnte zu Konflikten mit den Militärs führen, die erst 1997 den islamistischen Premier Necmettin Erbakan aus dem Amt vertrieben hatten.  Überdies hat Kutan kaum Aussichten, Koalitionspartner zu finden.
Als arithmetisch und politisch tragfähigste Lösung gilt eine Koalition der beiden großen konservativen Parteien, der von Yilmaz geführten Mutterlandspartei (Anap) und der Partei des Wahren Weges (DYP) der früheren Ministerpräsidentin Tansu Ciller. Der Sozialdemokrat Bülent Ecevit signalisierte bereits seine Bereitschaft, als Dritter in eine solche Koalition einzutreten. Die Intimfeinde Yilmaz und Ciller ließen durchblicken, daß sie ihre Rivalitäten zumindest zeitweilig begraben und auf die Führungsrolle verzichteten wollten. Als möglicher Premier wird Ecevit gehandelt.
Die jetzt offenbar auch von Demirel angestellten Überlegungen, eine solche Regierung könne die regulär bis Ende 2000 laufende Legislaturperiode in voller Länge durchstehen, womit die auf April nächsten Jahres vorgezogenen Wahlen überflüssig würden, haben aber keine großen Chancen. Vor allem Yilmaz will die Wähler möglichst bald zu den Urnen rufen, am liebsten schon im Februar. Er hofft trotz der gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe auf eine Rückkehr an die Macht.