junge Welt 28.11.1998

Keine deutsche Waffen mehr in die Türkei?
jW fragte die bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete Claudia Roth

F: Zum wiederholten Mal führt die türkische Armee derzeit eine völkerrechtswidrige Militäraktion auf nordirakischem Territoruim durch. Früher forderten die Bündnisgrünen Außenminister Kinkel auf, gegen dieses Vorgehen zu protestieren. Wieso ist nun von Fischer und von den Bündnisgrünen dazu nichts zu hören?
Es stimmt nicht, daß Fischer sich nicht dazu geäußert hat - im Gegenteil: Schon in seiner Antrittsrede ist er auf die Türkei eingegangen und hat seither einige klare Stellungnahmen abgegeben, in denen er deutliche Signale von der Türkei in ihrer Haltung zur kurdischen Frage und politische Reformen verlangte. Er hat in der kurzen Zeit seit Amtsantritt schon mehr klare Worte dazu gefunden als Kinkel in seiner ganzen Amtszeit. Auch zur Frage der Auslieferung Öcalans hat er sich klar auf die Seite der italienischen Regierung gestellt und deutlich gemacht, daß an eine Auslieferung in ein Land, in dem es die Todesstrafe gibt, nicht zu denken ist.
F: Sie haben einmal davon gesprochen, daß bei Reisen durch Kurdistan der Anblick der türkischen Streitkräfte keine Fragen zum Einsatz deutscher Waffen offenlasse - es sei »wie auf einem deutschen Truppenübungsplatz«. Der Unterschied zum »deutschen Truppenübungsplatz« ist allerdings: Mit deutschem Kriegsgerät werden Dörfer zerstört, Menschen vertrieben; es findet ein grausamer Krieg statt, der täglich Opfer fordert. Ist da nicht ein sofortiges Waffenembargo dringend geboten?
Ich habe in den letzten Jahren stets den Standpunkt vertreten, daß eine enge Polizeizusammenarbeit und Waffenlieferungen an die Türkei politisch nicht zu verantworten sind. Es gibt leider keinen Anlaß, meine Meinung zu ändern. So lange im Osten der Türkei Kriegszustand herrscht, die türkische Armee immer wieder völkerrechtswidrig in den Nordirak einmarschiert und Menschenrechte und Demokratisierung immer wieder nur versprochen, aber nicht realisiert werden, so lange sollten keine Waffen geliefert und keine finanziellen Hilfen zum Ankauf von Rüstungsgütern gewährt werden.
F: In der Vergangenheit wurden Sie im Auswärtigen Amt damit abgespeist, es lägen »keine Erkenntnisse« vor, daß deutsche Waffen im Einsatz sind. Alle, die einmal mit Menschenrechtsdelegationen im Kriegsgebiet unterwegs waren, wissen es besser. Werden Sie Ihren Parteikollegen Fischer in nächster Zeit mal darauf ansprechen?
Ich brauche ihn auf diese Problematik nicht extra anzusprechen, da er sich den Erkenntnissen, die es zum Einsatz deutscher Waffen in Kurdistan gibt - da bin ich mir sicher - nicht verschließt, sondern verantwortungsvoll damit umgehen wird. Ich gehe davon aus, daß sich dies zukünftig in den Lageberichten des AA niederschlagen wird.
F: Die Nationale Befreiungsfront Kurdistans ERNK fordert - nachdem Zeugenaussagen vorliegen, wonach die Deutsche Andrea Wolf von türkischen Soldaten zunächst gefangengenommen und dann »liquidiert« worden sei -, daß die Türkei sich an die Genfer Kriegskonventionen halten müsse. Ist es nicht bezeichnend und alarmierend, daß eine Guerilla-Bewegung die Einhaltung internationaler Konventionen fordert, während zum Vorgehen der türkischen Armee auf internationaler Bühne nur ein Schweigen zu verzeichnen ist?
Es stimmt nicht, daß auf internationaler Ebene geschwiegen wird.  Die Türkei ist immer wieder von verschiedenen Seiten aufgefordert worden, sich an internationale Vereinbarungen wie die Menschenrechtskonvention und die Genfer Kriegskonvention zu halten, so etwa vom Europarat und vom Europäischen Parlament. Allerdings war oft die Kritik einzelner Regierungen von doppelbödigem Charakter, denn man kann nicht erst die Waffen liefern, und sich dann beschweren, wenn diese menschenrechtsverletzend eingesetzt werden. Es kann nicht geduldet werden, daß die Türkei immer wieder gegen internationale Vereinbarungen verstößt. Auf diese Weise wird sie sich ins politische Abseits begeben, vor allem, was den Zeitpunkt der Realisierung ihrer Aufnahme in die EU anbelangt. Es kann aber genausowenig geduldet werden, daß die PKK gegen diese Konventionen verstößt, der ja wie der türkischen Regierung - u. a.  von amnesty international - Fälle von Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt werden.
Ich unterstütze natürlich die Forderung, den Fall Andrea Wolf zu untersuchen und - so sich der Verdacht bestätigt, daß sie von türkischen Sicherheitskräften liquidiert wurde - ihre Mörder vor Gericht zu stellen und zur Verantwortung zu ziehen.
F: Trotz fortwährenden Bruchs des Völkerrechts, Mißachtung der Menschenrechte, Folter und Tod im Staatsauftrag scheint die Türkei aber zumindest die weitgehende Rückendeckung der USA zu haben. Es gibt insgesamt keine, oder nur sehr sporadisch, Proteste in Bonn, London, Paris oder Washington.
Wie gesagt: Es gibt Proteste auf internationaler Ebene. Allerdings, da muß ich zustimmen, von viel zu wenig Seiten und oft viel zu zurückhaltend. Gerade von seiten der USA wird eine wenig kritische Haltung gegenüber der Türkei eingenommen, die ich politisch nicht nachvollziehen kann. Es gilt im Moment auf internationaler Ebene, Italien zu unterstützen und die türkische Regierung zu Gesprächen über eine friedliche Lösung der kurdischen Frage zu bewegen. Der Türkei muß unmißverständlich klargemacht werden, daß ihre kaum verhüllten Drohungen und ihr Säbelrasseln gegenüber Italien nicht hingenommen werden.
F: Wissen Sie, ob Rom die Absicht hat, Öcalan Asyl zu gewähren? Wie sieht es mit einem Auslieferungsbegehren der Bundesrepublik aus?
Ich finde es richtig, daß von seiten der Bundesrepublik ein potentielles Auslieferungsbegehren eingehend geprüft wird, und nicht, wie einige Stimmen es pauschal verlangen, kurzerhand ein Auslieferungsantrag gestellt wird - damit ist niemandem gedient. Ob die italienischen Behörden Asyl gewähren werden oder nicht, weiß ich nicht. Ich gehe aber davon aus, daß sie Öcalan auf keinen Fall an die Türkei ausliefern werden. Sein Aufenthalt in Italien kann eine Chance sein, daß endlich Schritte hin zu einer politischen Lösung der kurdischen Frage möglich werden. Diese Chance nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, muß Schwerpunkt der Bemühungen der Bundesregierung sein.
Interview: Thomas W. Klein