junge Welt  13.11.1998

       Celle: Medico recherchiert vor Ort
       Zweifel an einer Entführung durch die PKK wachsen

       Der Sprecher der Hilfsorganisation medico international, Hans Branscheidt, will am heutigen Freitag in Celle klären, ob die Kurdische
       Arbeiterpartei PKK dort tatsächlich sieben Jugendliche entführt hat.

       Dies hatte die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in der vergangenen Woche behauptet. Nach Darstellung des GfbV-Vorsitzenden Tilman
       Zülch sollen die Mädchen und Jungen aus kurdisch-jesidischen Familien im Alter von 14 bis 17 Jahren vor etwa vier Wochen von der PKK
       verschleppt worden sein, um sie für den Kampf gegen das türkische Militär zu rekrutieren. Zülch, der sich auf »anonyme Zuschriften aus jesidischen
       Kreisen« beruft, bat Branscheidt in einem Offenen Brief um Vermittlung in der Angelegenheit, weil medico seit vielen Jahren ein »gutes Verhältnis«
       zur PKK habe.

       Er fahre jetzt nach Celle, um »mit den angeblich betroffenen Familien und ihren Angehörigen zu sprechen«, sagte Branscheidt am Donnerstag
       gegenüber junge Welt. Auf seine Bitte, ihm die Namen und Adressen der vermeintlichen Entführungsopfer zu überlassen, habe Tilman Zülch bislang
       leider nicht reagiert. Ein weiteres Schweigen des GfbV- Vorsitzenden werde »fatale Konsequenzen« für dessen zukünftige Glaubwürdigkeit haben.

       Zweifel an der Entführung sind auch von anderer Seite aufgetaucht. Ein Sprecher der Lüneburger Staatsanwaltschaft sagte auf jW-Anfrage, es lägen
       keine Vermißtenanzeigen von kurdischen Familien aus Celle vor. Die Polizei ermittle in der Region jedoch aufgrund von »anderen Hinweisen«
       wegen Kindesentziehung. Bislang scheine sich zu bestätigen, »daß ein 14jähriges Mädchen verschwunden« ist, sagte der Behördensprecher.

       Die Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland erklärte, die GfbV-Behauptungen seien unwahr. Die angeblich betroffenen Familien könnten
       sich »nicht erklären, warum ihre Namen in diesem Zusammenhang genannt worden seien«. Dies hätten sie auch gegenüber dem kurdischen
       Fernsehsender Med-TV geäußert. Das Kurdistan- Informationszentrum und die Informationsstelle Kurdistan unterstellten dem GfbV-Vorsitzenden
       gar, er habe wissentlich gelogen, um die PKK zu diskreditieren.

       Teilweise völlig absurde Vorwürfe tauchen immer wieder in den Medien auf. Demnach soll die PKK sowohl für den Anschlag auf den Papst 1987
       als auch für das Attentat auf Olof Palme im Januar 1986 verantwortlich gewesen sein.

       Eine Überprüfung der aktuellen Anschuldigungen ist schwierig. Den Vorwurf etwa, kurdische Oppositionelle und abtrünnige Kritiker in Europa
       liquidiert zu haben, hat die PKK offiziell stets zurückgewiesen. Lediglich im Fall des ehemaligen ZK-Mitglieds Cetin Güngör, der vor dreizehn
       Jahren in Schweden ermordet wurde, erklärte die Partei, ein »kurdischer Patriot« haben ihn bestraft.

       Den Vorwurf von »Schutzgelderpressungen« und gewaltsamer Spendeneintreibung bestreitet die PKK ebenfalls. Der Verfassungsschutz bezifferte
       das Spendenaufkommen in Deutschland für die Kurdische Arbeiterpartei 1996 auf rund 30 Millionen Mark für das zurückliegende Jahr. Tatsächlich
       ist der Kampf der PKK auch bei vielen Kurden in der Bundesrepublik außerordentlich populär. Viele kurdische Flüchtlinge sympathisieren mit der
       Organisation oder sind sogar für sie aktiv.

       Viele Kurden beklagen sich über das verzerrte Bild, das deutsche Medien über den türkisch-kurdischen Konflikt und den Widerstand der PKK
       zeichnen. So werde die eingeworfene Fensterscheibe eines türkischen Konsulats in der deutschen Öffentlichkeit negativer bewertet als das Wüten
       türkischer Soldaten in Kurdistan.

       Reimar Paul