Mitte Februar diesen Jahres erschien in dem Nachrichtenmagazin Focus unter dem Titel »Kerker oder Tod« ein reißerischer Artikel zu Deutschen,
       die bei der kurdischen ARGK-Guerilla, dem bewaffneten Arm der PKK, in Kurdistan kämpfen. Wörtlich hieß es, PKK-Chef Öcalan wolle die
       »Schwärmer und Chaoten aus Köln oder Bielefeld« aus seinen Reihen ausschließen. Die Unterstützung der Deutschen sei nach Angaben des
       Nachrichtenmagazins, dessen Berichte häufig in der Boulevardpresse aufgegriffen und widergekäut werden, nicht mehr gewünscht. Öcalan habe sie
       aufgefordert, »möglichst schnell die Biege zu machen«.

       Diese Woche wußte es der Focus dann etwas besser: Die Mitteilung »Türkei: Deutsche kaltblütig erschossen« strafte nicht nur den Artikel aus dem
       Februar Lügen, sondern enthielt einige Informationen, die so auch in anderen Berichten in den letzten Tagen wiedergegeben wurden. Danach ist die
       33jährige Andrea Wolf in Kurdistan gefangengenommen und später erschossen worden: »In Verhören soll die 33jährige, so seriöse Quellen, über
       PKK- Strukturen geschwiegen haben. Daraufhin sei sie liquidiert worden.«

       Die vor einer Woche von der Nationalen Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) herausgegebene Mitteilung zu den Vorgängen im Kriegsgebiet war
       für eine Reihe von Leuten in Wiesbaden und Frankfurt a. Main deshalb mehr als nur eine Meldung unter vielen zum Krieg in Kurdistan, weil Andrea
       Wolf im Rhein-Main-Gebiet politisch aktiv war. Sie kehrte Frankfurt a. Main den Rücken, nachdem mehrere Hausdurchsuchungen in ihrer
       Wohngemeinschaft »im Zusammenhang mit Klaus Steinmetz« befürchten ließen, daß sie wegen des Sprengstoffanschlags auf den hessischen
       Gefängnisneubau in Weiterstadt ins Visier der Bundesanwaltschaft geraten war. Wolf war mit dem Polizeispitzel Steinmetz, der die Fahnder auf die
       Spur der gesuchten mutmaßlichen RAF-Leute Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams führte, zeitweise befreundet. Wolf bestritt zwar, mit dem
       Anschlag der RAF etwas zu tun gehabt zu haben. Dennoch lief gegen sie ein Ermittlungsverfahren, dem sie sich durch den Weggang in die Türkei
       entzog.

       Ihr Tod könnte nun zu Spannungen in den deutsch- türkischen Beziehungen führen. Schließlich wird in der vom Kurdistan-Informations-Zentrum in
       Köln vor einer Woche verbreiteten ERNK-Erklärung darauf hingewiesen, daß die PKK die Genfer Kriegskonvention aus dem Jahre 1949 sowie
       die Zusatzprotokolle aus dem Jahre 1977 unterzeichnet und damit alle Verpflichtungen durch diese Unterschrift garantiert habe. Obwohl die
       kurdische Guerilla diese Verpflichtungen eingehalten habe, setzte sich die Türkei über internationales Recht hinweg. Jeden Tag würden internationale
       Vereinbarungen durch die türkische Armee verletzt. Wörtlich heißt es: »Die Hinrichtung der ARGK-Guerilla Andrea Wolf ist dafür das jüngste
       Beispiel. (...) Die Türkische Republik ist in Sachen Kriegsverbrechen das Land, das den Rekord hält.« Unstrittig ist, daß die Türkei in den letzten
       Jahren weder die Genfer Kriegskonvention eingehalten hat, die die Ermordung von Gefangenen ebenso untersagt wie deren Mißhandlung und
       Folterung, noch auf internationale, völkerrechtlich verbindliche Bestimmungen Rücksicht nimmt. Selbst im Nord-Irak (Südkurdistan), auf fremdem
       Territorium, gehen türkische Truppen nicht nur gegen vermeintliche PKK-Stellungen, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung des
       Autonomie-Gebietes vor.

       Während auf türkischem und irakischem Territorium die türkische Armee eine Eskalation des Krieges betrieb und eine beispiellose Zerstörung von
       Dörfern sowie tausendfache Vertreibungen zu beklagen sind, funktionierten die deutsch- türkischen Beziehungen auf ganz besonders Weise: Die
       Bundesrepublik war in den zurückliegenden Jahren, zeitweise noch vor den USA, der größte Waffenlieferant der Türkei. Gleichzeitig geriet der
       massiv stattfindende Einsatz deutscher Waffen gegen kurdische Guerilla und Zivilbevölkerung im Kriegsgebiet zu einer Art deutsch- türkischen
       Schmierenkomödie: Wann immer Fotos, Filmaufnahmen und Zeugenaussagen den vertragswidrigen Einsatz von Kriegsgerät »Made in Germany«
       belegten, folgten stereotype Erklärungen aus Ankara und Bonn: Die deutsche und türkiche Regierung hatten darüber »keine Erkenntnisse«. Ein
       Lehrstück in Sachen »Glaubwürdigkeit führender Politiker«: Als beispielsweise in den ZDF- Nachrichten um 19 Uhr auf Fernsehbildern von einem
       der diversen Vorstöße der türkischen Armee im Nord-Irak deutsche Panzer und Daimler-Benz-Militärunimogs, selbst für Laien gut zu erkennen,
       durch die Wohnzimmer fuhren, hatte um 20 Uhr in der Tagesschau Außenminister Kinkel nur die Formel, er habe dazu »keine Erkenntnisse« parat.
       Und Außenamtssprecher Erdmann, der auch unter Fischer die offizielle Sichtweise der Dinge weiter verbreiten darf, könnte demnächst wieder in
       die Verlegenheit kommen, die Fortsetzung der offiziellen Verleugnungsgeschichte zu betreiben.

       Schließlich sind im Augenblick sogar nach offiziellen Angaben 15 000 bis 20 000 türkische Soldaten weit auf nord-irakisches Territorium
       vorgedrungen: Diese werden ihre Heckler&Koch-Gewehre, ihre Faun-Panzertransporter, die M.A.N.- und Daimler-Benz-Militärfahrzeuge kaum
       am Wegesrand abgestellt haben, um den neuen deutschen Außenminister die Peinlichkeiten von Kinkel und seinen unwissenden Sprechern zu
       ersparen. Wer um die Ausstattung der türkischen Landstreitkräfte weiß, die zu einem hohem Anteil mit US-amerikanischem und deutschem
       Kriegsgerät bestückt sind, und bei einzelnen Waffengattungen gar nicht umhin kommen, diese auch einzusetzten, wartet gespannt auf die ersten
       Bilder des völkerrechtswidrigen Vorstoßes.

       In bezug auf Andrea Wolf läßt sich feststellen: Sollte sich der Vorwurf bestätigen, daß türkische Soldaten die bei Gefechten gefangene Deutsche
       zunächst verhört und später hingerichtet haben, dann wird der neue Außenminister schneller, als ihm lieb ist, sich des Themas »Türkei« annehmen
       müssen.

       Inzwischen gibt es zum Tod von Andrea Wolf unterschiedliche Darstellungen. Nach Angaben der türkischen Tageszeitung Hürriyet, die sich auf die
       Aussagen eines türkischen Diplomaten beruft, sei die Deutsche bei einem Gefecht umgekommen und die Behörden wüßten nicht, wo ihre Leiche
       sei. Im Widerspruch dazu gab ein Sprecher des Außenministeriums in Ankara an, die Nachforschungen seien noch am Laufen. Das
       Kurdistan-Informations-Zentrum verbreitet unterdessen einen Augenzeugenbericht des Angriffs der türkischen Armee, bei dem Andrea Wolf
       ermordet wurde. Danach ist sie nicht, wie zunächst gemeldet am 24. Oktober, sondern bereits am 22. Oktober in Beytüssebap Catak
       »festgenommen worden«. Bei dem Angriff der türkischen Armee auf eine Guerillaeinheit seien von den 39 Kämpfern 24 ums Leben gekommen. In
       dem Bericht ist davon die Rede, daß Andrea Wolf nach einem mehrstündigen Kampf zusammen mit acht bis zehn Guerilleros »in die Hände der
       türkischen Armee« fiel. 20 Minuten sei sie von türkischen Offizieren verhört, dann »kaltblütig erschossen« worden.

       Thomas W. Klein (jW, 12.11.98)