Berliner Zeitung, 4.11.98

DEUTSCH-TÜRKISCHE BEZIEHUNGEN
Das Ende der langen Eiszeit
Die Bundesregierung unterstützt einen EU-Beitritt der Türkei, dringt aber gleichzeitig auf demokratische Reformen in der Türkei

von Sigrid Averesch
Berlin, 4. November. In den deutsch-türkischen Beziehungen bahnt sich das Ende der „Eiszeit“ an.  Erstmals seit den Differenzen um die Ablehnung des türkischen Aufnahmeantrags in die Europäische Union Ende 1997 wird am heutigen Donnerstag ein türkischer Regierungsvertreter in Bonn eintreffen.  Außenamts-Staatssekretär Korkmaz Haktanir leitet die zweitägige Sitzung des deutsch-türkischen Kooperationsrates, an dem rund 100 Wirtschaftsvertreter teilnehmen. Doch bei dem Besuch Haktanirs stehen nicht allein die Wirtschaftsbeziehungen im Mittelpunkt. Es geht um eine Normalisierung der politischen Beziehungen.
Demokratie-Defizite
Die rot-grüne Bundesregierung verfolgt gegenüber dem Nato-Partner eine klare Linie. Sie will die Bemühungen der Türkei um einen Beitritt zur EU fördern, aber gleichzeitig darauf dringen, daß die Türkei die Demokratie und die Menschenrechte in ihrem Land verwirklicht. „Wir werden deutlich machen, daß für die Türkei die Möglichkeit eines EU-Beitritts offen ist“, beschreibt der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer, gegenüber der „Berliner Zeitung“ die deutsche Haltung.  „Aber die Türkei muß sich an den europäischen Standards von Demokratie und Menschenrechte messen lassen“, stellt der bündnisgrüne Politiker klar. „Da hat die Türkei erhebliche Defizite. Ohne einen Durchbruch würde die Türkei ihre Chance zu einem möglichen Beitritt in die Europäische Union selbst verspielen.“
Er wertet die geplanten Erleichterungen bei der Einbürgerung von Türken in Deutschland als „eine Aufforderung und Mahnung an die türkische Regierung, mehr Liberalität im eigenen Land zuzulassen“. Wenn die Deutschen die Situation türkischstämmiger Bürger verbesserten, bedeute das, „daß die demokratischen Rechte in der Türkei verbessert werden sollten“. Die Unterdrückung von Kurden in der Türkei, die Einschränkung der Meinungsfreiheit, die politische Justiz - das werde erörtert. „Wir werden die kritischen Punkte ansprechen“, betont Volmer. Vorgaben werde Deutschland jedoch nicht machen. „Wir wollen nicht in die Befugnisse eines souveränen Staates eingreifen.“
Kein Gesichtsverlust
Für die Türkei bietet der Regierungswechsel in Bonn vor allem die Möglichkeit, ohne einen Gesichtsverlust die Beziehungen neu zu gestalten. Ministerpräsident Mesut Yilmaz hatte den früheren Bundeskanzler Helmut Kohl persönlich für die ablehnende Haltung der EU verantwortlich gemacht. Er werde sich für einen Neuanfang des deutsch-türkischen Verhältnisses einsetzen, hatte Haktanir bereits in türkischen Zeitungen angekündet. Die Liste der Themen, die er ansprechen will, ist lang. Unproblematisch dürften sich die Gespräche über die Lage der Türken in Deutschland gestalten.
Schwieriger könnten sich die Gespräche über die Zypern-Frage gestalten. Die Türkei fordert die Anerkennung des türkisch besetzten Teils als eigenständigen Staat, was Deutschland ablehnt.  Spannungen wird es auch beim Umgang mit der Kurdischen Arbeiterpartei PKK geben. Die Regierung in Ankara hat Bonn in der Vergangenheit vorgeworfen, die PKK zu unterstützen. Sie erwartet von der Bundesrepublik eine härtere Haltung. Doch in dieser Frage wird Ankara nicht mit einem deutschen Entgegenkommen rechnen können. „Die Türkei kann nicht von uns fordern, daß wir uns in besonderer Weise mit der Frage der PKK befassen“, zeigt Staatsminister Volmer bereits die Grenzen auf.