Konfliktpotential auch nach der Entspannung mit Syrien

Das jüngste Sicherheitsabkommen zwischen Syrien und der Türkei hat in der Region Erleichterung ausgelöst. Der Streit hatte die zwei Nachbarländer an den Rand eines Kriegs gebracht. Die Entspannung könnte aber von kurzer Dauer sein, wenn die Sicherheitsbedenken von Damaskus und die heikle Wasserfrage in der Region weiterhin ignoriert werden sollten.
it. Istanbul, 22. Oktober
Nach der Unterzeichnung des jüngsten türkisch-syrischen Sicherheitsabkommens schwankt die Stimmung in Ankara zwischen Euphorie und misstrauischer Zurückhaltung. Seine Regierung habe in 15 Tagen ein 15jähriges Problem gelöst, erklärte am Mittwoch der türkische Aussenminister Cem siegessicher. Zu gleicher Zeit meldete der Sprecher des Aussenministeriums aber grosse Bedenken; das eben unterzeichnete Dokument signalisiere lediglich den Beginn und nicht das Ende der Friedensbemühungen. Unsicher reagierte auch die Presse. Das Abkommen wird zwar als Triumph der türkischen Diplomatie gefeiert. Doch die meisten Kommentatoren weisen darauf hin, dass Damaskus und Ankara früher bereits ähnliche Papiere unterzeichnet hatten. Im jüngsten Abkommen verpflichtet sich Damaskus, seine Unterstützung für die türkische Kurdenguerilla PKK einzustellen.
Ägyptens erfolgreiche Vermittlung
Am meisten Lob für das Abkommen war aus Kairo zu hören. Ägypten war über die unerwartete Eskalation an der türkisch-syrischen Grenze äusserst beunruhigt, drohte doch der langjährige türkisch-syrische Streit um die PKK zu einem echten Konflikt zwischen dem Nato-Land Türkei und der arabischen Welt anzuwachsen. Es scheint Präsident Mubarak gelungen zu sein, den syrischen Herrscher Asad davon zu überzeugen, die Sicherheitsbedenken der Türkei diesmal nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Laut Angaben türkischer Nachrichtendienste sollen künftig PKK-Mitglieder in Syrien festgenommen und ihre Namen an türkische Stellen weitergeleitet werden. In den geplanten türkisch-syrischen Treffen über Sicherheit wird auch Libanon einbezogen. Davon erhofft sich Ankara, dass die PKK- Lager in der Bekaa-Ebene tatsächlich geschlossen werden. Für die PKK, die seit der vor kurzem in Washington eingeleiteten Einigung der zwei nordirakischen Kurdenführer auch ihr traditionelles Rückzugsgebiet im Nordirak verschwinden sieht, dürfte die Vereinbarung von Seyhan ein schwerer Schlag sein.
Präsident Mubarak hat aber offenbar auch den Türken ins Gewissen geredet und Ankara davor gewarnt, die Sicherheitsbedenken und Ängste der Syrer weiterhin zu ignorieren. Damaskus fühlt sich wegen der immer enger werdenden sogenannten strategischen Militärallianz zwischen der Türkei und Israel in die Zange genommen. Doch die wohl grösste Angst in Damaskus hängt mit der ungelösten Frage über die Verteilung der Wasserreserven in der ganzen Region zusammen. Bereits im Sechstagekrieg von 1967 ging Syrien einer wichtigen Wasserquelle verlustig. Mit der Eroberung des Golans durch Israel geriet damals der Jordanzufluss Banias unter israelische Kontrolle. Als zu Beginn der achtziger Jahre die Türkei mit der Realisierung des Südostanatolien-Projekts (GAP) anfing, wurde für Damaskus die Lage ernst. Das GAP-Projekt sieht den Bau von 22 Dämmen an Euphrat und Tigris vor. Mit dem gestauten Wasser soll Elektrizität gewonnen, arides Land bewässert und die Industrialisierung des Südostens der Türkei vorangetrieben werden. Von der wirtschaftlichen Entwicklung dieser rückständigen Region verspricht sich Ankara die Lösung der heiklen Kurdenfrage. Das GAP gilt in der Türkei als das ambitiöseste Projekt seit der Gründung der Republik im Jahre 1923.
Aus der Sicht Syriens und des Iraks ist das GAP eine verhängnisvolle Entwicklung. Beide Länder sind auf Euphrat und Tigris für ihre Wasserversorgung angewiesen und befürchten, das Projekt könnte die beiden biblischen Ströme zu traurigen Rinnsalen verwandeln und im arabischen Raum eine Wasserkrise auslösen. Dass der PKK-Chef Öcalan erst nach dem Bau des riesigen Atatürk-Staudamms in einem Aussenviertel von Damaskus unbekümmert residieren dürfte, ist bezeichnend für diese Ängste. Es zeigt freilich auch das Verständnis der Machtausübung im Nahen Osten. Damaskus wollte die PKK als syrische Trumpfkarte gegen türkisches Wasser einsetzen. Als Reaktion darauf drehte Ankara 1993 Syrien den Wasserhahn zu - angeblich aus technischen Gründen - und hoffte, damit dem Nachbarn seinen Willen aufzwingen zu können.
Unklare Rechtslage
Die wiederholten Aufforderungen von Syrien, dem Irak und der arabischen Liga, Verhandlungen über eine gerechte Verteilung des Wassers von Euphrat und Tigris zu führen, hat die Türkei in diesem Jahrzehnt jeweils beharrlich abgelehnt. In der Sichtweise Ankaras ist die Wassernutzung von Flüssen, deren Quellen auf türkischem Territorium liegen, ein Gegenstand nationaler Souveränität. Eine internationale Regelung über die Verteilung von Süsswasser-Ressourcen besteht nur in Ansätzen. So hat die Uno-Generalversammlung in einer Konvention über die Nutzung nicht schiffbarer internationaler Wasserläufe im vergangenen Mai das Recht aller Anrainerstaaten auf gerechte Verteilung berücksichtigt. Damals stimmten 103 Staaten dafür. Drei Uno-Mitglieder - China, Burundi und die Türkei - waren dagegen. Ob die jüngste Entspannung zwischen Syrien und der Türkei lange Zeit anhält, hängt letztlich von der Lösung der Wasserfrage ab. Daran liess der ägyptische Präsident Mubarak in Ankara keinen Zweifel.

Neue Zürcher Zeitung vom 23.10.98