junge Welt 20.10.1998

       Marschbefehl auf Vorrat
       Zum Ja von SPD und Bündnisgrünen zu Luftangriffen auf Jugoslawien

       - Von Winfried Wolf (*) -

       Die Entscheidung des Bundestags vom 16. Oktober 1998, gegebenenfalls mit Beteiligung der Bundeswehr NATO- »Luftoperationen« gegen die
       Bundesrepublik Jugoslawien durchzuführen, stellt einen tiefen Einschnitt in der deutschen Geschichte dar. Mit ihm werden Kontinuität und Bruch
       zum Ausdruck gebracht - Kontinuität mit einer fortgesetzten Militarisierung der deutschen Politik; Bruch mit den politischen Traditionen, die mit
       Bündnis 90/Die Grünen und mit der Sozialdemokratie verbunden wurden.

       Das Besondere ist zunächst die breite Mehrheit, mit welcher die genannte Entscheidung getroffen wurde: Von 580 anwesenden
       Bundestagsabgeordneten des alten Parlaments stimmten 500 für den Antrag der - alten - Bundesregierung. Gemessen an den anwesenden
       Parlamentariern stimmten demnach 86 Prozent für den Aggressionsakt. Gemessen an der vollen Zahl der Abgeordneten brachten es die Bellizisten
       auf eine Dreiviertelmehrheit, wobei davon auszugehen ist, daß viele der Abwesenden auch für den Antrag gestimmt und diese Mehrheit damit
       nochmals höher gewesen wäre. Die Nein-Stimmen sind ausgesprochen dünn gesät: alle 29 anwesenden PDS-MdBs, 21 SPD-Parlamentarier und
       nur neun Mitglieder der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen votierten gegen die geplanten Luftangriffe.

       Diese Mehrheiten kamen zustande, obgleich der Beschluß zum möglichen ersten, großangelegten Kampfeinsatz der Bundeswehr »out of area« in
       der Bevölkerung höchst umstritten sein dürfte, obgleich dieser in eklatantem Widerspruch zu dem beschlossenen Programm der Grünen und zu
       diversen Parteitagsbeschlüssen der SPD steht. Trotz alldem gab es für diese Entscheidung eine Mehrheit, die sogar für eine Verfassungsänderung
       ausgereicht hätte.

       Apropos Verfassung: Im Grundgesetz steht (noch), die Bundeswehr dürfe »nur zu Verteidigungezwecken« eingesetzt werden, Dort steht auch, daß
       Angriffskriege verfassungwidrig sind. Der Bundestagsbeschluß vom 16. Oktober liest sich wie Hohn auf diese Verfassungs-Artikel.

       Kein Militär vorgesehen

       Die Entscheidung vom 16. Oktober 1998 stellt einen vorläufigen Höhepunkt in einer Entwicklung dar, bei der Westdeutschland und das »neue
       Deutschland« von 1990 ff. zunehmend in die Uniform des alten militaristischen Deutschlands, das in den vergangenen 125 Jahren allein in Europa
       drei Aggressionskriege führte und dabei zwei Weltkriege auslöste, »hineinwächst«.

       Wie ein brauner Faden zieht sich durch die Nachkriegsgeschichte diese Militarisierung der westdeutschen und seit 1990 gesamtdeutschen
       Außenpolitik. Der parallel eingewirkte rote Faden in dieser Geschichte ist der des Widerstands gegen diese Militarisierung.

       Im Grundgesetz war kein Militär vorgesehen; durch eine Verfassungsänderung wurde dessen Einführung in den fünfziger Jahren beschlossen. Gegen
       diese erste Militarisierung gab es breite Bewegungen: die »ohne mich« und »Helm ab«-Kampagne gegen die »Wiederbewaffnung« und die
       »Atomtod-Bewegung« gegen eine deutsche Option auf Atomwaffen.

       In den sechziger Jahren wurden die Bundeswehr in die NATO integriert und der US-amerikanische Krieg in Indochina unterstützt - auch von der
       SPD, u. a. im Rahmen der großen Koalition 1966 - 1969. Parallel entwickelte sich die bis heute existente Ostermarsch-Bewegung und die
       Kampagne gegen den Vietnamkrieg; letztere ist untrennbar verbunden mit dem großen Aufbruch von 1968.

       Ende der siebziger und in den achtziger Jahren kam es - unter den Kanzlern Helmut Schmidt und Helmut Kohl - zur Militärpolitik der
       »Nachrüstung« und dem »star wars«- Programm, eine Hochrüstungspolitik, die die Welt an den Rand einer atomaren Katastrophe brachte.
       Dagegen entwickelte sich die bisher breiteste Bewegung im Nachkiegsdeutschland: die Friedensbewegung. Letztere wiederum ist eng mit der
       Grünen-Partei verbunden.

       Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde im neuen, größeren Deutschland forciert an der Militarisierungs-Spirale gedreht. Die
       »Verteidigungspolitischen Richtlinien« propagierten bereits 1992 die Notwendigkeit von Bundeswehr-Einsätzen weltweit - zur Sicherung der
       Rohstoffzufuhr. Zum selben Zeitpunkt wurde das 200- Milliarden-Mark-Programm in Gang gesetzt, mit dem die deutsche Armee
       angriffskriegs-fähig gemacht werden soll: Großraum-Militärtransporter, NH 90-Kampfhubschrauber, Eurofighter, Krisenreaktionskräfte. Ab diesem
       Zeitpunkt begann auch die Springprozession der Bundeswehreinsätze »out of area«: von Kambodscha über Somalia nach Bosnien.

       Doch anders als in den Jahrzehnten zuvor gibt es in den neunziger Jahren keine neue Bewegung gegen die beschleunigte Militarisierung des Landes -
       weder im Westen, obgleich hier die alte Losung »nach Rüstung kommt Krieg« zunehmend bestätigt wird, noch im Osten, wo die Losung
       »Schwerter zu Pflugscharen« heute anachronistisch erscheint.

       Lackmus-Test Krieg

       Die Formulierung, wonach der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, spricht den engen Zusammenhang von Konkurrenz und
       Krieg an; imperialistische Kriege sind dem Kapitalismus nicht nur inhärent; sie stellen die Zuspitzung des Grundwiderspruchs zwischen Kapital und
       Arbeit und des Konkurrenzverhältnisses dar: Krieg nach innen, Faschismus, und Krieg nach außen, also imperialistische Aggression.

       Die hohen Weihen, die der Krieg in der bürgerlichen Gesellschaft erfährt, erklären auch, weshalb die herrschenden »Linkskräfte«, die sich nach
       rechts bewegen, sich immer dem Lackmustest »Wie hältst du's mit dem imperialistischen Krieg?« unterziehen. Das war 1914 beim Ja der SPD zu
       den Kriegskrediten, als der Kaiser »keine Parteien mehr« kannte, so. Das wußte der Ex-Kommunist Wehner, als er 1959 mit dem Godesberger
       Programm das Ja der SPD zu Wiederbewaffnung und NATO festschrieb. Das war 1966 der Fall, als die SPD beim Eintritt in den Kabinettssaal
       der großen Koalition das Ja zu den Notstandsgesetzen mit der Möglichkeit des Einsatzes der Bundeswehr gegen Streikende abzugeben hatte.

       Und das war im Wahljahr 1998 so. Da gab es zunächst die völkerrechtswidrigen US-Militärschläge in Afghanistan und im Sudan. Obgleich nicht
       direkt gefragt, schlug der Gefreite Fischer, Joseph, die Hacken zusammen und brüllte »Jawoll.« Nach der Wahl traten die noch nicht Regierenden
       Gerhard Schröder, Joseph Fischer und Ludger Volmer bei der westlichen Weltmacht Nr. 1 zum Appell an und erhielten ihr »briefing« für die sich
       abzeichnenden NATO-Militärschläge auf Serbien. Der US-Präsident habe dargelegt, daß die NATO die Durchsetzung der UN-Resolution
       militärisch erzwingen könne, so Schröder vor laufenden Kameras. Und dann wörtlich: »Und dann ist das so.« Als darauf die Reporter Clinton
       fragten, ob die Grünen nicht »ein Problem« seien, antwortete der US-Präsident mit schallendem Chauvi- Gelächter, er habe »genug andere
       Probleme in Amerika«. Worauf Schöder in präzisem Englisch eingriff: »That's my problem!«

       Bereits die Form des am 16. Oktober angenommenen Bundestagsantrags ist höchst ungewöhnlich: Es ist ein Antrag der alten Bundesregierung, der
       die neue bindet, beschlossen in einer Übergangszeit, wobei selbst Liberale wie der Abgeordnete Burkhard Hirsch bezweifeln, daß die Einberufung
       des alten Bundestags nach der Wahl eines - erheblich anders zusammengesetzten - neuen verfassungsrechtlich möglich ist. Es handelt sich bei
       diesem Antrag nicht einmal um einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnisgrünen, wie dies zuvor bei vergleichbaren
       Anlässen der Fall war. Allein die alte Bundesregierung wird als Antragstellerin ausgewiesen. Vor dem Durchschreiten dieses Antrags-Jochs konnte
       man SPD und Bündnisgrüne noch als Linksparteien bezeichnen; nach Absolvierung dieses Initiationsritus handelt es sich um Parteigänger des
       imperialistischen Kriegs.

       Eine ähnlich deutliche Sprache spricht der beschlossene Antrag selbst. Auf die zwei Tage zuvor neu eingetretene Situation - die Regierung Milosevic
       machte alle von den USA geforderten Zugeständnisse - wird mit keiner Silbe eingegangen - sicher auch, weil es nicht in die aufgebaute
       »Drohkulisse« passen würde.

       Der Bruch des Völkerrechts wird im Antrag unverblümt dort ausgesprochen, wo die Notwendigkeit der militärischen Aggression u. a. mit dem
       Verweis begründet wird, »in absehbarer Zeit (ist) keine weitere Resolution des VN- Sicherheitsrats zu erwarten, die Zwangsmaßnahmen mit Blick
       auf den Kosovo enthält«. Dabei sind nach der UN-Charta militärische Maßnahmen nur möglich, wenn sie auf einer entsprechenden Resolution des
       Sicherheitsrats beruhen.

       Einmalige Lage im Kosovo?

       Dem Bundestagsbeschluß ist nach einer detaillierten Darlegung der zunächst einzusetzenden Bundeswehr-Kräfte zu entnehmen, daß »darüber hinaus
       ggf. Heereskräfte zur >
 

       Transfer interrupted!

       ließlich erforderlicher Stabs- und Unterstützungskräfte bereitgestellt (werden)«. Damit wurde ein Freibrief für den erstmaligen Einsatz der
       Krisenreaktionskräfte ausgestellt.

       Übrigens: Die von SPD und Bündnisgrünen beschworene Notwendigkeit humanitärer Hilfe für die notleidende Bevölkerung im Kosovo wird im
       Bundestagsbeschluß mit keinem Wort erwähnt. Dabei geht dieser dort, wo das im Sinne der Militärs gewünscht ist, durchaus ins Detail. So, wenn
       es zur Definition des Söldnerlohns heißt: »Bei dem Einsatz handelt es sich um eine besondere Auslandsverwendung im Sinne des Paragraphen 58 a
       des Bundesbesoldungsgesetzes.«

       Aufschlußreich ist auch der Schlußsatz des Bundestagsbeschlusses, wonach »die Kosten (für den Einsatz), soweit nicht veranschlagt, aus dem
       Einzelplan 14 zu erwirtschaften (sind)«. Sollten die Kosten im Verteidigungsetat, der laut neuem Verteidigungsminister Scharping »kein Steinbruch«
       sein darf, nicht »veranschlagt« sein, werden sie vom Steuerzahler auf andere Art »zu erwirtschaften« sein.

       Wenn die Bündnisgrünen argumentieren, es müsse gar nicht zu den angedrohten »Luftoperationen« kommen; es handle sich um einen
       »Vorratsbeschluß«, so liegt gerade darin die grundlegende Brisanz des Beschlusses: Dieser ermöglicht der NATO und der Bundeswehrführung, zu
       jedem von ihnen festgesetzten Termin losschlagen zu können. Die neue Bundesregierung und die sie tragenden Parteien haben vor ihrem
       Regierungsantritt der NATO und der Bundeswehr auf Vorrat einen Ermächtigungbeschluß für militärische Aggressionen gegeben.

       Das Besondere dieses Bundestagsbeschlusses besteht auch in der Heuchelei, zu der sich SPD und Bündnisgrüne hergaben. Während diese als
       Begründung für ihre Entscheidung die Lage im Kosovo als einmalig bezeichnen müssen, müssen sie zu allen vergleichbaren Situationen, wo - bisher
       - keiner auf die Idee kommt, NATO-Luftangriffe zu fordern, schweigen. Zu recht wurden von Kritikern dieses Bundestagsbeschluß Vergleiche mit
       Afghanistan, mit Israel und Palästina oder mit Zypern angeführt.

       Der ebenfalls oft angeführte Vergleich mit der Türkei und Kurdistan ist dabei am aussagekräftigsten: Die Türkei verletzt die Menschenrechte im
       kurdischen Gebiet seit Jahrzehnten und wesentlich deutlicher, als dies die serbische Regierung im Kosovo tut:

       - Der albanischen Minderheit wird das Recht auf die eigene Sprache und Kultur prinzipiell gewährt; in der Türkei ist bereits der Gebrauch der
       kurdischen Sprache im Parlament strafbar.

       - NATO und Bundeswehr fordern den Abzug von serbischem Militär und von »Sicherheitskräften« Jugoslawiens aus dem Kosovo, obgleich keiner
       bestreitet, daß Kosovo Teil der Bundesrepublik Jugoslawien ist. Der kurdische Teil der Türkei ist von Truppen besetzt, dort herrscht seit langem
       der Ausnahmezustand, mit dem alle demokratischen Rechte außer Kraft gesetzt wurden.

       - Die türkische Armee nimmt sich auch regelmäßig das Recht heraus, ihren Krieg gegen die PKK und die kurdische Bevölkerung über das
       türkische Staatsgebiet hinaus - u. a. im Irak - zu führen; aktuell droht die türkische Regierung sogar mit einem Krieg gegen Syrien. Die
       »Völkergemeinschaft« äußert sich dazu erst gar nicht, und ebenso schweigen SPD und Bündnisgrüne. Dabei wäre der Ansprechpartner und
       Aggressor hier wesentlich beeinflußbarer, als es die serbische Regierung ist: die Türkei ist NATO-»Partner«.

       Die in diesem Land Herrschenden saßen nicht im alten und sie sitzen nicht im neuen Kabinett. Sie treffen ihre Entscheidungen an anderer Stelle - u.
       a. in den Chefetagen von Daimler/Chrysler und der Deutschen Bank. Wer nun genau den Initiationsritus erfand, mit dem die Linksparteien SPD und
       Grüne am 16. Oktober 1998 ihre »Bündnistreue« - gemeint ihr Bündnis mit Kapital und imperialistischem Krieg - zu dokumentieren hatten, mag
       Angelegenheit der Geschichtsforschung sein. Ich würde mich nicht wundern, wenn belegt würde, daß BDI-Chef Henkel mit Kumpan Kopper diese
       famose Idee ausgeheckt hatte; ist doch von Henkel der treffliche Satz aus der Wahlnacht, als er Schröder besuchte, überliefert: »Ich bin immer auf
       der Seite der Sieger«.

       Aufschlußreicher Dialog

       Aktenkundig ist allerdings ein anderer Vorgang. Auf der Hauptversammlung der Daimler-Benz AG am 18. September fragte ich als Kritischer
       Aktionär: »Herr Schrempp, kann der Souverän, die Wählerschaft, am 27. September den Eurofighter abwählen? Kann eine rot-grüne Regierung
       das Projekt stoppen?« Der Vorstandsvorsitzende des in Europa führenden Rüstungskonzerns, Schrempp, antwortete: »Herr Dr. Wolf, das Projekt
       Eurofighter kann nicht mehr gestoppt werden, auch nicht von einer rot-grünen Regierung.«

       Zwar ist es politisch und damit auch juristisch falsch, daß der Eurofighter nicht gestoppt werden könne. Allein aus der Verfassungsbestimmung,
       wonach Aggressionskriege nicht geführt werden dürfen, könnte ein gut bezahlter Winkeladvokat ableiten, daß die Beschaffung der Angriffswaffe
       Eurofighter verfassungswidrig ist. Doch die Juristerei ist hier nebensächlich. Immerhin sagten sich die Militaristen in diesem Land auch, »legal, illegal,
       scheißegal«, als sie 1992 die nie in einem Parlament beschlossenen »Verteidigungspolitischen Richtlinien« vorlegten, die sich zumindest zu diesem
       Zeitpunkt in Widerspruch zur geltenden Rechtsauffassung befanden.

       Letztlich geht es um die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Je nachdem, wie diese beschaffen sind, besteht für Juristen immer die Möglichkeit,
       dafür passende Paragraphen zu finden oder bestehende zu biegen. Der angeführte Wortwechsel auf der Hauptversammlung von Daimler-Benz ist
       Ausdruck dafür, daß in den herrschenden Kreisen auch zehn Tage vor der Wahl das Wissen vorhanden war, daß »rot-grün« die strategischen
       Entscheidungen, die hier getroffen wurden und werden, nicht tangiert.

       Heute wissen wir: Der Koalitionsvertrag von SPD und Bündnisgrünen versucht erst gar nicht, diese realen Machtverhältnisse wenigstens punktuell
       und dort, wo eine Mehrheit der Bevölkerung dies will, in Frage zu stellen. Der »Eurofighter« immerhin das größte Rüstungsprojekt in der deutschen
       Geschichte wird von den neuen Parteigängern des imperialistischen Kriegs konsequenterweise nicht in Frage gestellt.

       (*) Winfried Wolf ist wiedergewähltes Mitglied des Bundestages - gewählt über die Landesliste der PDS Baden-Württemberg
 

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