Frankfurter Rundschau 17.10.98

Messen mit zwei Ellen
Erfolgreich wären die angedrohten Luftangriffe gegen die Serben nur, wenn sie nie stattfinden würden
Von Pierre Simonitsch

Nach Ansicht der Völkerrechtler darf die Nato nicht ohne ausdrückliches UN-Mandat militärisch im Kosovo-Konflikt eingreifen. Fast einstimmig warnen die Gelehrten vor einem gefährlichen Präzedenzfall: Schon die Androhung von Gewalt verstoße gegen den Geist und die Buchstaben der Charta der Vereinten Nationen. Wenn heute die Nato unter Führung der USA das Recht breche, können morgen andere Mächte folgen. Das nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete Gerüst einer internationalen Ordnung drohe einzustürzen.
Im Prinzip haben alle Nationen die gleichen Rechte und den gleichen Anspruch auf Sicherheit. Als Nationen definieren die UN nicht Volksgruppen, sondern anerkannte Staaten. Darin liegt eine der Schwächen der Weltorganisation. Als die Gründer der UN deren Charta zu Papier brachten, dachten sie nur an die Verhütung von Kriegen zwischen Staaten. Daß ein halbes Jahrhundert später praktisch alle bewaffneten Konflikte innerhalb der Staatsgrenzen stattfinden würden, war damals nicht voraussehbar.
Unter welchen Umständen Streitkräfte zur Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit eingesetzt werden dürfen, ist in der UN-Charta eindeutig umschrieben. Nur der Sicherheitsrat kann eine Militäraktion anordnen oder genehmigen. Die einzige Ausnahme ist die legitime Selbstverteidigung. Wenn ein Staat Opfer einer Aggression wird, darf er sich umgehend zur Wehr setzen, bis der Sicherheitsrat aktiv wird.
Allerdings gab es seit 1945 eine ganze Reihe von Militärinterventionen, die nicht vom Sicherheitsrat angeordnet oder genehmigt wurden. In allen Fällen versuchten aber die Interventionsmächte, zumindest den Schein der Legalität zu wahren.
Das Eingreifen der USA im Koreakrieg unter der Flagge der UN wurde 1950 vom Sicherheitsrat in Abwesenheit des sowjetischen Vertreters beschlossen. Den Sitz Chinas hatte damals noch Taiwan inne. Nach Südvietnam zogen die ersten US-Truppen Ende der fünfziger Jahre auf Einladung der prowestlichen Marionettenregierung. Als sowjetische Panzer 1968 den „Prager Frühling“ niederwalzten, berief sich Kreml-Chef Leonid Breschnew auf ein angebliches Hilfeersuchen tschechoslowakischer Patrioten. Später verkündete Breschnew die Doktrin der „begrenzten Souveränität“ der anderen Mitglieder des Warschauer Pakts.
Die in der UN-Charta verbriefte Souveränität der Staaten wurde 1975 in ganz anderer Weise relativiert. Ein Schlüsselsatz in der KSZE-Schlußakte von Helsinki lautet: „Die Teilnehmerstaaten anerkennen die universelle Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Achtung ein wesentlicher Faktor für den Frieden ist.“ Damit akzeptierten die 35 Konferenzteilnehmer die Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten im Falle der Mißachtung der Menschenrechte. Zugleich enthält die KSZE-Schlußakte aber ein striktes Verbot der „Androhung oder Anwendung von Gewalt als Mittel zur Regelung von Streitfällen“.
Auf dem Höhepunkt der Kriege im ehemaligen Jugoslawien führte der Westen ein neues Element in die internationalen Beziehungen ein: die „humanitäre Intervention“. Damit gemeint sind bewaffnete Eingriffe in einem anderen Staat, um dort gefährdete Menschen zu retten. Diese umstrittene Rechtsauslegung ebnete den Weg für die Luftangriffe der Nato in Bosnien und die spätere Stationierung einer internationalen Schutztruppe.
Selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat sich gegen ein „humanitäres Interventionsrecht“ ausgesprochen, das manche schon zur „Interventionspflicht“ ausweiten wollen. Solche Rechte und Pflichten mögen gut gemeint sein, doch sie öffnen der Willkür die Tür, besonders wenn im Entscheidungsprozeß der Weltsicherheitsrat umgangen wird.
Schon jetzt wird mit zweierlei Elle gemessen. Als die Russen in Tschetschenien Krieg führten, stand keine „humanitäre Intervention“ der Nato zur Debatte. Das Nato-Mitglied Türkei unterdrückt die Kurden, zerstört deren Dörfer, bekämpft kurdische Rebellen sogar auf irakischem Gebiet und droht jetzt Syrien mit Krieg. Doch die schützende Hand ihrer Verbündeten bewahrt die Türkei davor, daß die Kurdenfrage aufs Tapet kommt.
Den vorbereiteten Militärschlägen gegen die Serben fehlen drei Dinge: die Rechtsgrundlage, die glaubhafte lautere Absicht und das politische Konzept. Ein jahrhundertealter ethnischer Konflikt läßt sich nicht mit Bomben beenden. Wenn die maßgeblichen Mächte den Kosovo-Albanern weiterhin die Gründung eines eigenen Staates verweigern, wird deren Ruf nach Nato-Truppen rasch in Verbitterung und Feindschaft umschlagen.  Erfolgreich wären die angedrohten Luftangriffe nur, wenn sie nie stattfinden würden: Wenn nämlich die beiden Konfliktparteien zuvor einem Kompromiß zustimmen würden. Auf dem Balkan wäre das allerdings etwas Neues.