Berliner Zeitung 17.10. 1998

Neue Trennlinien im alten Bundestag
von Ada Brandes

BONN, 16. Oktober. Seit dem 27. September steht fest, welche Abgeordneten die Wählerinnen und Wähler in den Deutschen Bundestag entsandt haben. Vor drei Tagen ist die Zusammensetzung des neuen Parlaments amtlich bestätigt worden. Aber nicht der neugewählte, sondern der alte Bundestag stimmt an diesem Freitag dem Antrag auf Teilnahme der Bundeswehr an Nato-Operationen im Kosovo-Konflikt zu - einem Antrag, den die abgewählte Regierung gestellt hat.
Fast alles ist ungewöhnlich an dieser Sondersitzung des Bundestages. Nicht im großen Plenarsaal, wo gerade die Bestuhlung entsprechend den neuen Machtverhältnissen umgruppiert wird, tagt das Parlament, sondern im engen ehemaligen Bonner Wasserwerk. Nicht zwischen Regierung und Opposition verläuft eine Trennlinie, sondern quer durch die künftige Koalition. Ungewöhnlich auch, daß der Noch-Oppositionsführer Rudolf Scharping (SPD) seinem künftigen Vorgänger, dem amtierenden Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU), dauernd kopfnickend Beifall zollt, ungewöhnlich, daß Noch-Kanzler Kohl auf der Regierungsbank die Ausführungen des SPD-Politikers Karsten Voigt beklatscht. Und ganz besonders ungewöhnlich ist das beredte Lob für Außenminister Klaus Kinkel (FDP) aus dem Munde des künftigen Vizekanzlers Joschka Fischer, Sprecher der bündnisgrünen Fraktion - jenes Grünen, den die alte Koalition noch vor wenigen Wochen als Super-Risiko für die deutsche Außenpolitik verschrie.

Bonbons für den Kanzler

Ungewohnt ist auch das Bild, das die Regierungsbank bietet. Während früher die Ministerinnen und Minister die Debatten zum Aufarbeiten von Akten nutzten, sitzen an diesem Tag die nicht mehr regierenden Regierungsmitglieder tatenlos herum und wissen nicht, wohin mit ihren Händen. Nur Finanzminister Theo Waigel (CSU) und der verbissen dreinblickende Innenminister Manfred Kanther (CDU) haben Wichtiges zu schreiben - oder geben sich jedenfalls den Anschein.  CSU-Gesundheitsminister Horst Seehofer („Ich geh jetzt rein, ich will das noch mal genießen“) gibt nur ein kurzes Gastspiel in der Kabinettsrunde, die junge Familienministerin Claudia Nolte (CDU) wirkt grau und verhärmt - das personifizierte Unglück. Helmut Kohl ist die meiste Zeit zum Buddha erstarrt, in Bewegung gerät er erst, als ihn ein Bedürfnis überkommt: Von der Regierungsbank wird Botschaft an die Fraktionsspitze gegeben, und wenige Minuten später wird dem Kanzler der übliche diskrete Umschlag gereicht - schnell steckt sich Kohl ein, zwei Bonbons in den Mund. Dann machen die Süßigkeiten die Runde. Das Kabinett kaut.
Wolfgang Schäuble ist es, der die gewohnte Normalität wiederherstellt und die allumfassende Einigkeit, die wie Weihrauch über dem Plenum wabert, durchbricht. Wie Kinkel und Rühe, wie der künftige SPD-Kanzler Gerhard Schröder, wie fast alle Redner an diesem Tag würdigt auch er das, was hier unter dem Signum „Kontinuität“ gelaufen ist: die Zusammenarbeit zwischen alter und künftiger Regierung, eine Zusammenarbeit in der schwierigen Frage, ob sich deutsche Soldaten an einem Nato-Einsatz „zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovokonflikt“ beteiligen sollten. Aber Schäuble verzichtet keineswegs darauf, Schärfe in die Debatte zubringen. Er zieht gegen den SPD-Verteidigungsexperten Günter Verheugen vom Leder und stellt dar, daß die Zustimmung durch den alten Bundestag keineswegs die Idee der alten Regierung war, sondern ein „Wunsch der künftigen Mehrheit von SPD und Grünen“. Und: „Im kommenden Deutschen Bundestag werden wir schon darauf achten, daß die Regierung eine eigene Mehrheit auch in solchen Entscheidungen hat - damit auch daran kein Zweifel besteht.“
Zwingende Logik
Daß der Bundestag mit großer Mehrheit dem Nato-Einsatz zustimmen würde, mußte nie bezweifelt werden. Die Gegner des Beschlusses finden deshalb auch wenig Aufmerksamkeit für ihre Ausführungen - obwohl sowohl der FDP-Politiker Burkhard Hirsch wie auch Redner der PDS logisch zwingend begründen, daß ein Militärschlag der Nato ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates keine Völkerrechts-Grundlage habe.  Immerhin verweigern 63 Abgeordnete die Zustimmung, 18 enthalten sich der Stimme. Viele von ihnen stoßen sich auch an der fehlenden Antwort auf die Frage, für welchen Zeitraum das „Ja“ des Parlaments Geltung habe und ob damit ein Präzedenzfall geschaffen werde.
Ungewöhnlich aufmerksam verfolgt wurde die Debatte auf der Pressetribüne von einem Herrn im anthrazitgrauen Anzug. Jost Stollmann hatte sich zunächst, des besseren Überblicks wegen, in der vorletzten Reihe aufgestellt. Eine strenge Parlaments-Bedienstete hatte den ihr unbekannten künftigen Wirtschaftsminister aber auf die vorderen Presseplätze verscheucht: Die beiden letzten Reihen seien Abgeordneten vorbehalten.
DEBATTE
In der Aussprache vor der Abstimmung warben führende Vertreter der alten wie der künftigen Regierung einhellig um Zustimmung zum Antrag auf Beteiligung deutscher Soldaten am möglichen Nato-Einsatz im Kosovo-Konflikt.
Außenminister Klaus Kinkel (FDP) betonte, daß der jugoslawische Präsident Milosevic auf monatelange Bemühungen um eine friedliche Lösung nicht reagiert habe. Als letztes Mittel sei nur die Drohung mit einem militärischen Einsatz geblieben.
Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) räumte ein, daß es der gefährlichste Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr werden könnte, falls die Nato doch noch losschlage. Die Soldaten bräuchten „den vorbehaltlosen und sichtbaren Rückhalt“ des Parlaments.
Der designierte Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) sagte, wer die vorliegende Rechtsgrundlage bezweifle und daher „nein“ sage, schaffe selbst einen gefährlichen Präzedenzfall, wenn es um die Bewältigung anderer Krisen gehe.
Der künftige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) dankte dem scheidenden Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) für die Zusammenarbeit in der Kosovo-Frage. Es sei wichtig gewesen zu zeigen, daß die demokratischen Kräfte in Deutschland auch dann handlungsfähig seien, wenn man mitten in einem Regierungswechsel stehe. Die Zustimmung zum Einsatz von Bundeswehr-Soldaten falle ihm nicht leicht. Deutschland könne aber seiner Verantwortung nicht ausweichen.
Der mögliche neue Außenminister Joschka Fischer warb zwar auch um Zustimmung zum Einsatz, äußerte aber zugleich die Hoffnung, daß nach dem Einlenken Milosevics eine Militäraktion nicht mehr nötig sein werde.  Ihm selbst falle die Zustimmung im Lichte der neuen Entwicklung nicht mehr so schwer.
Die Gegner einer deutschen Beteiligung wie der Grüne Ludger Volmer argumentierten vor allem mit der ihrer Meinung nach fehlenden rechtlichen Grundlage.
Volmer sprach von einem Präzedenzfall, der einer künftigen Selbstmandatierung anderer Staaten in Konfliktfällen „Tür und Tor“ öffne. Es sei auch nicht zu begreifen, wie jemand einem Nato-Einsatz zustimmen könne, der Jugoslawien nicht die Teilnahme an der Fußball-Weltmeisterschaft verwehrt habe. Letzteres hätte Milosevic mehr Sympathien im Volk gekostet.
Gregor Gysi (PDS) warf der Bundesregierung und dem Westen vor, die Eskalation des Konfliktes nicht vermieden zu haben. Für eine Stärkung der Autonomie der Kosovo-Albaner, wie sie einst bestand, sei zu wenig getan worden. Die Nato sei moralisch unglaubwürdig, weil sie ihr eigenes Interesse in den Vordergrund stelle.  Den Kurden im Nato-Land Türkei sei man nicht mit einer militärischen Drohung beigestanden.
RECHTSLAGE
Die Debatte im Bundestag war begleitet vom Streit um zwei rechtliche Fragen.
Erster Streitpunkt war die Frage, ob der scheidende 13. Bundestag berechtigt sei, über den Bundeswehr-Einsatz zu befinden. Der amtierende Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch (FDP) verneinte dies. Das alte Parlament entspreche nicht mehr dem Wählerwillen.
Dagegen vertrat Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) die Auffassung, das neue Parlament sei erst nach seiner Konstituierung am 26. Oktober entscheidungsfähig.  Die Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen teilten diese Meinung.
Zweiter Streitpunkt war die Frage, ob die Nato mit einem möglichen Militäreinsatz das sogenannte Gewaltmonopol der Uno ignorieren und das Völkerrecht brechen würde. Wenn dies so wäre, dürfte der Bundestag nicht zustimmen.
Die UN-Charta verbietet prinzipiell militärische Gewalt zwischen Staaten. Von diesem Prinzip gibt es zwei Ausnahmen:
Der Sicherheitsrat hat das Recht, Zwangsmaßnahmen anzuordnen. Ein solches UN-Mandat gibt es im Fall Kosovo nicht.
Ein Staat hat das Recht auf Selbstverteidigung. Der Kosovo ist aber kein Staat, sondern Teil Jugoslawiens.
Die Nato reklamiert nun das Recht zu einem Einsatz aus humanitären Gründen. Die Drohung (oder der Vollzug) eines Bombardements militärischer Ziele diene den Menschen im Kosovo. Diese Rechtsgrundlage ist umstritten.