Neue Zürcher Zeitung vom 17.10.98

Kultureller Artenschutz

Es gibt kaum ein europäisches Land, das auf seinem Territorium nicht - historisch bedingt - autochthone Gruppen hätte, die eine andere Sprache als die Mehrheitsbevölkerung sprechen. Die meisten dieser Minderheiten finden wie die Ungarn Rumäniens ihr Sprachvolk als
Titularnation eines anderen Staates wieder. Das gilt für die Tessiner, die in Italien ihre eigene Kultur majoritär vertreten sehen und die sich dank dem reichen Medien- und Literatur-Angebot mit ihrer Muttersprache keineswegs als Minorität fühlen müssen. Sprachgemeinschaften ohne Rückhalt in einem Nationalstaat, wie die Basken, die Friesen oder die Sorben, haben es schwerer. Ein Sonderfall sind die Rätoromanen, die Träger einer Landessprache sind, wenngleich der kleinsten von vier, deren Idiom aber in keinem Staat Mehrheitssprache ist. Auf kulturelle Befruchtung von aussen können sie nicht zählen, kulturpolitisch aber erfahren sie eine komfortable Förderung, und niemand, nicht einmal der Zeitgeist, bedrängt sie.
Ob alteingesessen, ob aus einem Konfliktgebiet vertrieben oder freiwillig gewandert - Menschengruppen anderer Zunge sind eine alltägliche Erscheinung in Europas Nationen, die ja keine monokulturellen Einheiten sind. Der Europarat befasste sich während Jahren mit der Frage, bevor er 1992 eine Charta für Regional- und Minderheitensprachen verabschiedet hat. Mit dem Ziel, Europas kulturelles Erbe zu erhalten, soll nicht nur Diskriminierung verboten, sollen auch Fördermassnahmen gepflegt werden, indem Regionalsprachen in Schule, Medien und Verwaltung zum Zug kommen.
Es geht dabei um Förderung von Minderheitssprachen, und nicht von Sprachminderheiten, keine Sonderrechte sollen den Sprechern dieser Sprachen gewährt werden. Die Sprachen-Charta geht ausdrücklich auf Distanz zu nationalen Gruppen, die Separatismus oder
Grenzverschiebungen anstreben.
Die Charta bezieht sich nur auf europäische Sprachen und nicht auf solche, die erst im Zuge der jüngsten Migrationen in Europa aufgetaucht sind. Tatsächlich ist die Stellung der Tessiner in der Schweiz - wo die Charta bereits in Kraft ist - noch kein Garant für eine erfolgreiche
Integration der Kurden oder Algerier. Sinti und Roma wiederum, in ganz Europa vertreten und Inhaber der entsprechenden Staatsbürgerschaft, können sehr wohl durch die Sprachen-Charta kulturelle Förderung erwarten, so ihre Länder sie denn ratifizieren.
Deutschland hat dies unlängst getan, nicht zuletzt im Bewusstsein um die historische Verantwortung, die es für die Vernichtung der Zigeuner trägt. Begründet wird der Schutz kultureller Vielfalt auch damit, dass er dem verbreiteten Eindruck entgegenwirke, durch die europäische Einheit werde alles uniform.
He.