Süddeutsche Zeitung 17.10.1998

Türkische Zeitung „Hürriyet“ hetzt gegen Grünen-Politiker
Des Agitators Angst vor der Integration

Chefkolumnist will den türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten Özdemir als Ausländerbeauftragten in Deutschland verhindern
Von Wolfgang Koydl

Istanbul, 16. Oktober – Dem designierten Bundeskanzler wird der Name Ertug Karakullukcu vermutlich unbekannt sein, und auch der künftige Bundesaußenminister müßte schon den einen oder anderen Parteifreund danach fragen. Deshalb dürfte es Gerhard Schröder und Joschka Fischer wahrscheinlich auch entgangen sein, daß sich Ertug Karakullukcu seit geraumer Zeit mit ganz konkreten Vorstellungen darüber zu Wort meldet, wer in der nächsten Bundesregierung welchen Posten zu bekleiden habe. Vor allem einer soll auf keinen Fall etwas werden: Der grüne Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir.
Es wäre falsch, Karakullukcu zu unterschätzen.  Schließlich ist er einer der mächtigsten Meinungsmacher Deutschlands. Als Chefkolumnist der deutschen Ausgabe der türkischen Tageszeitung Hürriyet erreicht er Tag für Tag Abertausende von Lesern – Sonntag inklusive. Mit einer Auflage von täglich knapp 90 000 Exemplaren ist das Blatt die größte und einflußreichste türkische Publikation in Deutschland, und seit einiger Zeit mischt Karakullukcu von seinem Schreibtisch in Istanbul aus in der deutschen Innenpolitik mit. Das Ziel des Kommentators vom Bosporus ist es, mit allen Mitteln den Schwaben Özdemir als neuen Ausländerbeauftragten der Bundesregierung zu verhindern.
„Bitte“, schrieb er am vergangenen Mittwoch an die „sehr verehrten Herren Schröder und Fischer“, „bitte schenken Sie Leuten wie Cem Özdemir keine Beachtung“. Er stehe „in totalem Gegensatz zu den Grunderwartungen der türkischen Gesellschaft“, sei „ein unechter Demokrat“, der von den Türken in Deutschland „nicht akzeptiert“ werde. Auch mit Ex-Innenminister Manfred Kanther und mit Adolf Hitler hat Karakullukcu den Grünen-Politiker schon verglichen.
In seinem Haß auf Özdemir hat sich der Kolumnist Karakullukcu sogar dazu hinreißen lassen, dessen innerparteiliche Konkurrentin um den Ausländerposten zu unterstützen: „Sogar Claudia Roth wäre besser“, meinte er, sie sei „die Schönheit der Schönheiten, unsere Claudia“; allerdings solle sie nun ihr Versprechen einlösen und endlich Türkisch lernen: „Statt des Türken, pardon, ,türkisch-stämmigen‘ Cem Özdemir, würden wir die ,reinblütige‘ Deutsche Claudia Roth vorziehen“, weil sie wenigstens aufrichtig sei.
Die derart Gepriesene ist gar nicht glücklich über das Lob. Sie erinnert sich, daß der Hürriyet-Agitator schon weniger galante Worte über sie gefunden hat.  Özdemir selbst sieht die Kampagne weniger als persönliche Auseinandersetzung, sondern als Kampf zweiter integrationspolitischer Modelle. Der Grünen-Politiker will, daß Türken in Deutschland die vollen bürgerlichen Rechte erhalten und sich in die deutsche Gesellschaft integrieren. „Integrieren, nicht assimilieren“, betont Özdemir. Dagegen sei Hürriyet das Sprachrohr jener, welche die Türken „ins Getto drängen“ wollten. „Sie wollen die Anerkennung als nationale Minderheit; das wäre nichts anderes als das osmanische Millet-System“, fügt er hinzu. Im osmanischen Reich waren die nicht-muslimischen Minderheiten der Griechen, Juden und Armenier in Millets gegliedert, die große innere Eigenständigkeit besaßen und von ihrem eigenen geistlichen Oberhaupt geführt wurden.
Letztlich geht es darum, daß Özdemir seine Landsleute in Deutschland von der Gängelung durch Ankara befreien will. Das aber macht ihn gefährlich.  „Diese Leute haben Angst vor mir“, meint er, „und nicht ganz zu Unrecht“. Erschwerend – in den Augen Karakullukcus – kommt hinzu, daß Özdemir eine politische Lösung des Kurden-Problems anmahnt und der toleranten islamischen Glaubensgemeinschaft der Aleviten angehört, welche in weiten Kreisen der Türkei verächtlich gemacht wird. Gleichwohl versuchte Hürriyet, den Abgeordneten nun auch noch in die Nähe des radikalen Islam zu rücken, dem ärgsten Gegner der Aleviten.
Özdemir kennt seinen größten Fehler: Er hat sich dazu bekannt, Deutscher zu sein, zwar mit türkischem Hintergrund, aber ohne türkische Loyalität. Einmal habe ihn ein Hürriyet-Mitarbeiter dazu aufgefordert, „in die Familie (der türkischen Nation) zurückzukehren“. „Ich habe gesagt, daß ich schon eine Familie habe, mit Mutter, Vater und allem, mit der ich recht zufrieden bin“, erinnert er sich fröhlich. Karakullukcu selbst will zu seinen Kolumnen, seiner frischen Liebe zu Claudia, und zu seinen Ratschlägen für die künftige Bundesregierung nicht Stellung nehmen. „Mit ihrer Zeitung rede ich nicht“, knurrt er. „Sie schreiben schlecht, Sie schreiben falsch. Wir sind keine Nazis, wir sind nicht nationalistisch, und wir sind nicht gegen die Integration.“ Dann lag auch schon der Hörer auf der Gabel.