Frankfurter Rundschau, 12.10.1998

Die Menschenrechte verpflichten jeden Demokraten

FR-Interview mit amnesty-Generalsekretär Volkmar Deile über die Erwartungen an die neue Bundesregierung

Ein unabhängiges Menschenrechtsinstitut, die Umwandlung des Unterausschusses Menschenrechte in einen ordentlichen Bundestagsaussschuß, Verbesserungen der Asylverfahren und eine Menschenrechtsklausel im Außenwirtschafts- und Kriegswaffenkontrollgesetz nannte Volkmar Deile, Generalsekretär der deutschen Sektion der Menschenrechtsorganisation amnesty international, in einem Interview mit der FR als die wichtigsten Forderungen von ai an die neue Bundesregierung. Mit Deile sprachen die FR-Redakteure Brigitte Spitz und Detlef Franke.
Frankfurter Rundschau: Als Tony Blair in
Großbritannien an die Macht kam, hat er die Losung von der „ethischen Diplomatie“ ausgegeben. Wünschen Sie sich auch ein so gutklingendes Versprechen von der neuen Bonner Koalition?
Volkmar Deile: Losungen allein sind für uns kein Ziel. Deshalb fordert amnesty international sichtbare Schritte, wie die Menschenrechte ins Zentrum der Politik gerückt werden sollen. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben als Oppositionsparteien Menschenrechtsanliegen oft unterstützt. Doch wie das bei ihnen als Regierungsparteien aussieht, kann man heute natürlich noch nicht wissen. Die Grünen sind das erste Mal in einer Bundesregierung: da gibt es keine Erfahrungswerte. Unsere Herangehensweise ist es zu sagen: Wir haben große Erwartungen, bitte enttäuscht sie nicht.
Haben Sie denn konkrete Forderungen an eine rot-grüne Bundesregierung?
Nicht nur amnesty international, auch andere Menschenrechtsorganisationen in Deutschland wollen, daß erstens ein unabhängiges Menschenrechtsinstitut geschaffen wird. Darüber hat es in der letzten Legislaturperiode Beratungen gegeben, die bisherige Regierung hat das abgelehnt, die SPD und die Grünen haben es befürwortet. Jetzt ist die Stunde, dieses Vorhaben zu verwirklichen. Zweitens: Wir möchten die Aufwertung des Unterausschusses Menschenrechte, der bisher ein Unterausschuß des Auswärtigen Ausschusses war. Er soll ein ordentlicher Bundestagsausschuß werden, um der Tatsache gerecht zu werden, daß Menschenrechte die Grundlage vieler Politikbereiche sind.
Wir wollen eine Verbesserung der Asylverfahren.  Frauen, die Opfer geschlechtsspezifischer Verfolgung waren, müssen Schutz erhalten. Es darf keine Abschiebung geben, wenn zu befürchten ist, daß es zu Gefahren für Leib und Leben von Flüchtlingen kommen wird.
Die Genfer Flüchtlingskonvention darf nicht ausgehöhlt werden. Wir erwarten, daß die Grundlage der Politik der Bundesregierung, auch des Auswärtigen Amtes, gegenüber anderen Staaten die Achtung der Menschenrechte ist, und die Bundesregierung das Leid vieler Menschen nicht vergißt, wenn andere politische, wirtschaftliche, militärische oder geopolitische Interessen wichtig sind.
Ferner fordern wir eine Menschenrechts- klausel im Außenwirtschafts- und Kriegswaffenkontrollgesetz, damit keine Rüstungsexporte, keine Ausstattungs- und Ausbildungshilfe an Militär und Polizei menschenrechtsverletzender Staaten gehen. Ansonsten wird es unser Alltag werden, die Politiker, auch einen Außenminister Joschka Fischer, davon zu überzeugen, daß er sich bei den Begegnungen mit anderen Außenministern für ganz konkrete Menschenrechtsbelange einsetzt.
Im Dezember jährt sich die Deklaration der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum fünfzigsten Mal. Hat sich die Situation der Menschenrechte eher verbessert oder verschlechtert?
Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Die Erfolgsgeschichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besteht darin, daß aus einem moralischen Appell schrittweise einklagbares Völkerrecht wurde. Wir haben heute über 60 Abkommen, die dem Schutz der Menschenrechte dienen. Das ist sicher - auch wenn diese mit schwachen Überprüfungsmechanismen ausgerüstet sind - ein riesiger Fortschritt. Die entstandene weltweite Menschenrechtsbewegung wäre ohne die UN-Erklärung von 1948 ebenfalls nicht denkbar. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist deshalb besonders wichtig, weil sie die Hoffnungen aller Menschen artikuliert, die sich aus Angst, Not, Unfreiheit und Gewalt befreien wollen.
Auf der anderen Seite haben wir keine objektive Verbesserung der Menschenrechtslage, sondern ein Auf und Ab durch die Geschichte seit 1945 - ob man sich Pol Pot in Kambodscha, Biafra in Afrika anschaut, oder den Völkermord in Ruanda und die Menschenrechtsverletzungen beim Krieg im ehemaligen Jugoslawien.
Erfolge hat es bei den Kampagnen gegen die Todesstrafe gegeben. Sie ist - erstmals in der Geschichte der Menschheit - von einer Mehrheit der Staaten entweder per Gesetz abgeschafft oder wird seit über zehn Jahren nicht mehr angewendet. amnesty international stellt außerdem fest, daß es tendenziell weniger gewaltlose politische Gefangene gibt, für deren Freilassung wir arbeiten. Aber es gibt eine Zunahme von „Verschwindenlassen“ und politischem Mord.
Sie sprachen von einer weltweit wachsenden Menschenrechtsbewegung. Wie sieht es denn mit der Unterstützung für amnesty aus? Was ist mit den Geldproblemen, von denen jüngst berichtet wurde.
amnesty international hat heute weltweit 54 Sektionen, die Mehrheit davon nicht in Europa oder Nordamerika, sondern in anderen Erdregionen. Dieses Wachstum ist erfreulich, doch steht ihm eine finanziell schwierige Situation gegenüber. Vor allem die Recherchen von Menschenrechtsverletzungen verschlingen Millionen. Die deutsche Sektion zahlt zur Zeit etwa vier Millionen Mark in das internationale ai-Budget, um diese sorgfältigen Ermittlungen sicherzustellen. Insgesamt verfügten wir im vergangenen Jahr über zwölf Millionen Mark Einnahmen, hatten aber Kosten von 13 Millionen. Die Spendeneinnahmen sind zwar nicht gesunken, doch hatten wir bei Erbschaften einen spürbaren Rückgang.  Da wir von Regierungen Geld weder beantragen noch akzeptieren, sind wir davon abhängig, daß mehr Menschen bei uns mitarbeiten oder uns finanziell unterstützen. Viele Menschen in Deutschland gehen offenbar davon aus, daß amnesty wegen seines guten Rufes auch finanziell automatisch abgesichert ist.  Weil die Finanzen nicht so stabil sind, wie wir uns das wünschen, haben wir unter anderem eine Aktion „5000 neue Förderer gesucht“ gestartet. Seitdem haben sich schon mehr als 2000 Menschen entschlossen, ai regelmäßig finanziell zu unterstützen. Dadurch konnten wir einigen Menschen zusätzlich helfen. Unter anderem beteiligen wir uns an den Kosten für die Rehabilitation des türkischen Menschenrechtlers Akin Birdal, der im Mai bei einem Attentat schwer verletzt wurde.
Die Organisation „Brot für die Welt“ plant eine Kampagne, mit der sie Ölkonzerne zur Einhaltung von Menschenrechten zwingen will. Was halten Sie von einem Ethik-Siegel für Ölfirmen oder andere weltweit agierende Konzerne? Plant ai, in diesem Bereich ebenfalls aktiv zu werden?
Ja, das sind wir schon. Unsere Organisation hat ein Papier erarbeitet, das sich „Human Rights Principles for Companys“ - also Menschenrechtskriterien für Wirtschaftsunternehmen - nennt, in dem von der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen bis hin zur Frage, was Firmen zur Förderung und Einhaltung der Menschenrechte praktisch tun können, eine Reihe von Vorschlägen gemacht werden.
Wir haben in der Vergangenheit die Auseinandersetzung mit „Shell“ gehabt, weil wir den Konzern dazu bewegen wollten, sich für die Freilassung von 20 Ogoni in Nigeria einzusetzen, die gegen die Umweltzerstörung durch die Erdölförderung in ihrem Land protestiert hatten, und mit einem Todesurteil rechnen mußten, weil man ihnen - wie schon zuvor dem Schriftsteller Ken Saro-Wiwa - einen Mord anhängen wollte. Wir haben mehrfach mit Wirtschaftsunternehmen diskutiert und gefordert, daß sie nicht mit „Sicherheits“-Kräften kooperieren, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Es ging auch darum, wie Firmen in ihren Niederlassungen im Ausland Mitarbeiter behandeln, die zum Beispiel wie in Iran gezwungen werden, Kleidervorschriften einzuhalten. Oder wie in China, wo Mitarbeitern nicht zugestanden wird, eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen.
Einer Ihrer Arbeitsschwerpunkte in jüngster Zeit war der internationale Strafgerichtshof. Denken Sie, daß der überhaupt vernünftig wird arbeiten können, wenn die Amerikaner weiterhin dagegen sind?
Die Arbeit des internationalen Strafgerichtshofs hängt jetzt nicht mehr von den USA ab. Natürlich können sie versuchen, das Gremium zu verhindern, aber 120 Staaten haben dafür gestimmt, das im Juli auf der Staatenkonferenz in Rom beschlossene Statut schnell zu ratifizieren und das notwendige Geld zur Verfügung zu stellen, damit dieser Gerichtshof arbeitsfähig wird. Wir betrachten es - auch im Rahmen unserer am Dienstag gestarteten Kampagne gegen Menschenrechtsverletzungen in den USA - als eine Aufgabe, Druck auf die USA zu organisieren, damit sie das Statut schnell unterzeichnen und ratifizieren.
Einige Klauseln, zum Beispiel daß jeder Staat, der beitritt, erst einmal sieben Jahre die Arbeit des Strafgerichtshofes für sich aussetzen kann, beeinträchtigen eine schnelle Arbeitsfähigkeit. Man sieht: Die Arbeit für einen besseren Menschenrechtsschutz braucht manchmal viel Geduld und einen langen Atem.
Nach unserer Einschätzung ist mit dem Statut, obwohl es eine Fülle von Lücken aufweist, ein Anfang gemacht worden. Es hilft, die Straflosigkeit für schwere Menschenrechtsverletzungen zu überwinden. Für Massenmörder und Völkermörder gab es bisher kein zuständiges internationales Gericht. In Zukunft wird es, wenn ein Staat nicht willens oder in der Lage ist, eine solche Person vor Gericht zu stellen, dieser internationale Strafgerichtshof tun. Wir halten das für eine Revolution im Völkerrecht.
Was würden Sie jemandem entgegnen, der sagt, in Zeiten der ökonomischen Krise, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, müssen bei den internationalen Kontakten die Menschenrechte in den Hintergrund treten.
Da kann man nur antworten, die Menschenrechte sind kein Luxus. Jeder ökonomische Fortschritt kann nur funktionieren, wenn die Menschenrechte gesichert und integraler Bestandteil politischer Bemühungen sind.  Bundespräsident Roman Herzog hat einmal sinngemäß gesagt, daß für Hungernde Menschenrechte wie die Meinungsfreiheit nicht so wichtig seien, sie bräuchten erst einmal etwas zu essen. Das sehen wir anders: Menschenrechte sind unteilbar, und das Folterverbot oder die Meinungsfreiheit gelten für hungernde genauso wie für satte Menschen.  Menschenrechtler aus Indien haben uns wissen lassen, daß sie keine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation erreichen können, wenn sie nicht die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit als Grundbedingung haben. Und da kein Staat allein auf diesem Globus existiert, wird auch unsere ökonomische Situation von einer Verbesserung insgesamt abhängen.
Das Gegenteil erleben wir gerade. Wie Wirtschaftskrisen in anderen Ländern unsere Wirtschaft beeinflussen, zeigen die aktuellen Entwicklungen. Wenn die deutsche und europäische Außen- und Wirtschaftspolitik gegenüber autokratischen asiatischen Staaten die Menschenrechte wichtiger genommen hätte, wäre es vielleicht nicht zu der Wirtschaftskrise gekommen.
Sehen Sie jetzt viele Fürsprecher für Menschenrechte in der künftigen Regierung?
Darauf gibt es nur eine Antwort: Gleichgültig, ob einer links, rechts oder in der Mitte steht, die Menschenrechte stellen eine Verpflichtung für jeden Demokraten dar.