Süddeutsche Zeitung,  06.10.98
 

Überraschung für Freund und Feind
Die Türkei schickt 10 000 Soldaten an die Grenze zu Syrien

Zuerst werden die syrischen Radarstellungen ausgeschaltet, dann fliegen türkische Kampfbomber Angriffe auf das Haus des kurdischen Separatistenchefs Abdullah Öcalan in Damaskus und auf Trainingslager seiner „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) in der libanesischen Bekaa-Ebene. Zum Abschluß vernichten die Türken alle Kraftwerke der Syrer, bevor sie ihren Kurz-Krieg beenden.
Detailliert und anschaulich illustriert stimmte die Istanbuler Massenzeitung Sabah ihre Leser auf die jüngste Krise zwischen der Türkei und Syrien ein. In den Zeitungen und im Fernsehen stehen die Zeichen auf Krieg. „Man kann nicht alles am grünen Tisch regeln“, hieß es in Milliyet, manchmal müsse man mit der Faust auf den Tisch schlagen. Der neue Luftwaffenchef Orhan Kilic pflichtete bei: „Wenn es keine diplomatische Lösung gibt, dann stehen wir bereit.“
Ankaras Wutausbruch gegenüber Syrien hat Freund und Feind gleichermaßen überrascht. Niemand weiß, was die Türkei bewogen hat, das Thema ausgerechnet jetzt auf die Tagesordnung zu setzen.  Denn daß Syrien den PKK-Chef und seine Organisation unterstützt, ist lange bekannt. Unklar ist zudem, welche Forderungen die Türken konkret erheben. Staatspräsident Süleyman Demirel forderte Syrien lediglich dazu auf, die Unterstützung für die PKK einzustellen – wie schon dutzende Male zuvor.  Doch was genau Ankara erwartet, sagte er nicht.  Soll Öcalan ausgeliefert, getötet oder in ein syrisches Gefängnis gesteckt werden? Sollen syrische Truppen PKK-Lager ausräuchern?
Sogar der neue Spezialfreund der Türken ging vorsichtig auf Distanz. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ließ mitteilen, sein Land habe nichts mit dem türkischen Säbelrasseln zu tun. Gleichzeitig schickte er ein deutliches Entspannungsignal nach Damaskus: Die israelische Armee wird ihre Aktivitäten an der syrischen Grenze deutlich einschränken. Für Israel und die USA kommt die Krise in der Tat zum ungünstigsten Zeitpunkt: Denn gerade erst wurde mit Mühe der Nahost- Friedensprozeß wieder angeschoben.
Manche politische Beobachter vermuten daher, daß der eigentliche Adressat des türkischen Tobens nicht Damaskus ist, sondern Washington. Demnach sollen die Amerikaner gewarnt werden, nichts zu tun, was türkischen Interessen in der Region zuwiderläuft. Die Botschaft ist klar: Gegen uns geht nichts, und wir können euch große Probleme machen.
Die Amerikaner hatten Ankara gegen sich aufgebracht, als sie die beiden im Nord-Irak operierenden kurdischen Clan-Chefs Dschalal Talabani und Massoud Barsani zur Unterzeichnung eines Abkommens bewegten – ohne die Türken zu konsultieren oder zu den Gesprächen hinzuzuziehen.  Die Türkei befürchtet, daß Washington die Gründung eines unabhängigen Kurdenstaates im Nord-Irak anstrebt. Ein solches Gemeinwesen könnte sich zum Vorbild für die türkischen Kurden entwickeln.
Am meisten aber war das türkische Militär über jenen Passus im Washingtoner Kurden-Abkommen erzürnt, in dem sich alle Seiten verpflichten, Grenzverletzungen zu unterbinden. Dies wäre das Ende der türkischen Militäroperationen im Nord-Irak. Doch Ankara zeigte sehr schnell, daß es sich nicht beeindrucken ließ: Der Generalstab entsandte 10 000 Soldaten – erst mal in den Nord-Irak, und nun vielleicht auch nach Syrien.
Wolfgang Koydl