Saarbrücker Zeitung, 2.10.1998

Streng bewacht auf Noahs Spuren
Türkei lockt Touristen in den geschichtsträchtigen Südosten - Zehntausende Soldaten sichern das kurdische Rebellengebiet

Von unserer Mitarbeiterin SUSANNE GÜSTEN, Istanbul

„Tourismus in den Südosten“ lautet die neue Parole der türkischen Fremdenverkehrsbranche: Ein gewagtes Projekt, handelt es sich beim Südosten der Türkei doch um den Schauplatz der seit fast rund 15 Jahren andauernden Kämpfe zwischen der türkischen Armee und den kurdischen Rebellen der PKK. Tatsächlich verfügt die Region an den Wasserläufen von Euphrat und Tigris über unermeßliche Schätze der Kulturgeschichte, die wegen des Bürgerkriegs seit eineinhalb Jahrzehnten praktisch unerreichbar sind.
Offen bleibt aber trotz staatlicher Zusicherungen zunächst noch die Frage nach der Sicherheit von Touristen in der Region, über die nach wie vor der Ausnahmezustand verhängt ist. Bereits in diesem Herbst sollen erste Reisen nach Südost-Anatolien auf dem türkischen Markt angeboten werden; ab kommendem Jahr sollen sie auch in Deutschland zu buchen sein.
An Sehenswürdigkeiten hat Südost-Anatolien viel zu bieten, angefangen mit einigen der wichtigsten Stätten der biblischen Geschichte. So liegt etwa Harran in der Region, der langjährige Wohnort von Abraham, dem Urvater von Christen, Juden und Moslems. Die Stadt selbst, die heute Altinbasak heißt und nahe der syrischen Grenze liegt, gilt als einer der am längsten kontinuierlich bewohnten Orte der Menschheitsgeschichte.
Weiter im Osten, an der armenischen Grenze, erhebt sich der bekannte Berg Ararat, auf dem nach christlicher und jüdischer Tradition die Arche Noahs nach der Sintflut landete. Der Berg ist mit 5165 Metern höher als die europäischen Alpen und ein schlummernder Vulkan; seinem letztem Ausbruch im Jahr 1840 fiel das Dorf Arghuri zum Opfer, wo Noah der Bibel zufolge den ersten Weinstock nach der Sintflut pflanzte. Auch der Berg Cudi, auf dem die Arche nach Lesart des Korans landete, liegt im Osten Anatoliens.
Christliche Kirchen aller Epochen und Konfessionen - griechisch-orthodox, armenisch und syrisch, römisch und maronitisch - dokumentieren in ganz Südost-Anatolien den Werdegang des Christentums; tatsächlich wurde der Begriff „Christen“ in Antiochien in der heutigen Südtürkei geprägt.  Aber auch der Aufstieg des Islam hinterließ mit Moscheen und Medresen seine Spuren in der Region.
Andere, zum Teil weltweit einmalige Sehenswürdigkeiten der Region sind noch älter, beispielsweise die Grabstätte von Antiochus I. von Commagene am Berg Nemrut; der im ersten Jahrhundert vor Christus verstorbene Herrscher ließ dort ein bizarres Panoptikum von überdimensionalen Götter~skulpturen in den Fels hauen, die noch heute erhalten sind.
Auch die Moderne bietet Sehenswertes: Durch das „Südost-Anatolien-Projekt“ der türkischen Regierung sollen die Ströme Euphrat und Tigris mit 22 Staudämmen - darunter dem drittgrößten Damm der Welt - zur Bewässerung und Stromversorgung der Region nutzbar gemacht werden. Mit dem Milliarden-Projekt will die Türkei ihren verarmten Südosten wirtschaftlich aufbauen; damit soll nicht zuletzt auch der kurdischen Rebellion der soziale Boden entzogen werden.
In diese Anstrengungen ordnet sich auch die neue Kampagne der Tourismusbranche ein. „Wir wollen die Menschen dort in die Welt zurückholen“, sagt Talha Camas, Vorsitzender des Verbandes türkischer Reisbüros, der die Kampagne ins Leben gerufen hat. „Der Frieden ist sehr nahe, die Menschen haben wieder Hoffnung - jetzt müssen wir etwas tun.“ Noch in diesem Jahr sollen türkische Touristen zunächst in das Dreieck zwischen Urfa, Diyarbakir und Mardin reisen können; ab dem kommenden Frühjahr wollen türkische Reiseunternehmen die Tour auch in Deutschland anbieten. Ziel des Verbandes ist, die Besucherzahl in den nächsten fünf Jahren von momentan praktisch Null auf über 100 000 pro Jahr zu steigern.
Ob das Projekt gelingt, wird sich vor allem an der Sicherheitsfrage entscheiden, fielen dem bewaffneten Konflikt in der Region seit 1984 doch mehr als 30 000 Menschen zum Opfer. „Das Terrorproblem ist gelöst“, verkündete der Sondergouverneur über das Ausnahmezustandsgebiet, Aydin Arslan, kürzlich bei einer Konferenz mit Tourismusmanagern: Die Besucher könnten kommen. Tatsächlich haben sich die Kämpfe nach den jüngsten Offensiven der Armee in die Berge verlagert, Städte und Landstraßen sind friedlicher als seit Jahren. Schon wegen der Anwesenheit von mehreren zehntausend Soldaten sei Südost-Anatolien sicherer als manches traditionelle Urlaubsgebiet, behaupten zumindest die türkischen Behörden.
Das lassen sich die kurdischen Rebellen allerdings nicht ungestraft nachsagen. Die PKK setzt angesichts der türkischen Übermacht seit einigen Wochen wieder verstärkt auf Guerilla-Taktik, überfällt Dörfer und errichtet Straßensperren. Erst im Juni dieses Jahres wurde auch ein deutscher Abenteurer entführt, der nahe dem Berg Ararat in eine Straßensperre kurdischer Rebellen geriet. Der Mann wurde zwar unversehrt wieder freigelassen; der Zwischenfall zeigt aber, daß für die Sicherheit von Reisenden in der Region noch längst nicht garantiert werden kann. Und bei der probeweisen Rundfahrt durch den Südosten stutzte ein türkischer Charterflug-Unternehmer neulich angesichts der ständigen Sicherheitskontrollen: „Das wird den Touristen aber gar nicht gefallen.“