junge Welt
                                                           Inland

                                                                                                                    28.08.1998

       »Es ist schwerer, nach Europa zu kommen als in den Himmel«
       Karawane für Flüchtlinge fand Schutz im Göttinger Rathaus

       Ein heftiger Regenschauer knallt am Donnerstag mittag auf den Göttinger Hiroshima-Platz. Passanten und Bedienstete hasten unter das schützende
       Vordach des Rathauses. Einige Dutzend Demonstranten, die sich vor dem Gebäude versammelt haben, rollen die im Wind flatternden Transparente
       zusammen und flüchten ebenfalls ins Trockene.

       Die unter freiem Himmel geplante »Öffentliche Pressekonferenz« der »Karawane für die Rechte von Flüchtlingen« wird kurzerhand ins Rathausfoyer
       verlegt. Die Karawane war am Mittwoch in Göttingen eingetroffen. Örtliche Flüchtlingsinitiativen hatten auf dem Marktplatz eine symbolische
       Mauer errichtet. »Es ist schwerer, nach Europa zu kommen als in den Himmel«, stand auf einem an der Wand befestigten Plakat. Nach der
       Begrüßung zogen rund 300 Menschen in einer »Wanderkundgebung« durch die Innenstadt.

       Bislang sei die Reise ganz gut verlaufen, berichtet ein Flüchtling aus Sri Lanka, der von Beginn an dabei ist. Vor allem in den größeren Städten habe
       die Karawane viel Aufmerksamkeit erregt, hätten Deutsche und Ausländer meistens positiv auf das Anliegen der Demonstranten reagiert. Einige
       Politiker allerdings »haben die Karawane als gewalttätige Bewegung diffamiert«. Bremens Innensenator Ralf Borttscheller nannte die Organisatoren
       »systemfeindliche Krawallmacher«. Und das Bistum Fulda warnte die katholischen Kirchengemeinden im Dekanat Kassel aufgrund des
       »gewaltbereiten autonomen Hintergrundes« vor einer Unterstützung.

       »In dieser Stadt sind Sie uns aber willkommen«, sagt der frühere Göttinger Ausländerpfarrer und Sprecher der kirchlichen Arbeitsgemeinschaft
       Flucht und Asyl, Knut Wellmann. Er sei erfreut, »daß sich die Ausgeschlossenen in Deutschland mit der Karawane zu Wort melden und ein Zeichen
       gegen ihren Ausschluß setzen«. Dasselbe versuchten auch Kirchengemeinden in Göttingen zu tun, indem sie in den vergangenen Jahren fünfmal von
       Abschiebung bedrohten Flüchtlingen Schutz gewährt hätten.

       Auch das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe erklärt sich »mit den Forderungen der Karawane solidarisch«. Seit der Verschärfung des
       Asylbewerberleistungsgesetzes im Jahr 1993 gebe es »faktisch eine Zwei-Klassen-Medizin«, viele Flüchtlinge würden nur noch bei akuten
       Erkrankungen behandelt. Krankheit, so ein Sprecher der Initiative, werde »als Druckmittel mißbraucht, damit Menschen Deutschland verlassen«.
       Ein kurdischer Flüchtling, auch er reist mit der Karawane, prangert die deutschen Waffenlieferungen an die Regierung in Ankara an.

       In Deutschland gingen Schikanen und Verfolgung weiter. In Bremen etwa seien erkennungsdienstliche Behandlungen von Kurden an der
       Tagesordnung, ebenso Verhaftungen, willkürliche Hausdurchsuchungen, Vereinsverbote. Seit Inkrafttreten des PKK-Verbotes habe der Senat
       bereits drei kurdische Vereine verboten.

       Reimar Paul