aus: Neues Deutschland   25. August 1998

von Jan Keetman
Wachsender Druck auf Samstagsmütter
Polizeieinsatz unter fadenscheinigen Vorwänden

Die Polizei in Istanbul hinderte am Wochenende wie jede Woche Angehörige und Menschenrechtler daran, mit einer Sitzaktion die Aufklärung des Schicksals Hunderter Personen zu fordern, die im Gewahrsam der Polizei 'verschwunden' sind. 30 Menschenrechtler wuren festgenommen.

Vor zwei Wochen hatte ein großes Polizeiaufgebot die 170. Kundgebung der als "Samstagsmütter" bekannten Menschenrechtsgruppe wegen eines Bombenanschlags verboten. Diesmal genügte der bloße Hinweis, die Aktion sei "ungesetzlich", um bereits vor der Kundgebung bekannte Menschenrechtler festzunehmen. Auch die Istanbuler Vertreterin der internationalen Journalistenorganisation 'Reporter ohne Grenzen', Nadire Mater, befand sich unter ihnen. Danach machte die Polizei regelrecht Jagd auf mutmaßliche Mitglieder der überwiegend aus Frauen bestehenden Menschenrechtsgruppe. Die Festgenommenen wurden beim Abtransport geschlagen.
Der Vorsitzende des Isatanbuler Menschenrechtsvereins, Ercan Kanar, kritisierte auf einer spontanen Kundgebung vor dem Gebäude des Vereins in einer Seitenstraße das Einschreiten der Poizei. Unter Anspielung auf die Festnahme des türkischen Rechtsradikalen und Mafiabosses Alaattin Cakici durch  die französische Polizei, bei der sich herausstellte, daß er einen Dipolamtenpaß besaß, sagte Kanar: "Derselbe Staat, der rote Pässe an faschistische Banden austeilt, kann es nicht ertragen, daß die Samstagsmütter nach ihren Kindern suchen."
Seit mehr als drei Jahren versammeln sich die Frauen vor dem historischen Galatasaray-Gymnasium, der ersten Schule in der Türkei, in der nach europäischen Vorbild Unterricht stattfand. Mehrfach wurden diese Kundgebungen gestört oder verhindert, dann aber offenbar wegen des schlechten Echos in der türkischen Presse wieder zugelassen oder nur durch eine Reihe vor dem Kundgebungsort geparkter Polizeibusse von der Öffentlichkeit abgetrennt. Wie selbstverständlich parkte die Polizei auch regelmäßig den Bus mit der Aufschrift: "Fahrbares Untersuchungszentrum für Verschwundene" neben den Samstagsmüttern, offenbar um den Eindruck zu erwecken, diese sollten sich doch vertrauensvoll an die Polizei wenden. Nimet Tanrikulu von der Istanbuler Zweigstelle des Türkischen Menschenrechtsvereins erklärte dazu, daß es unter den angeprangerten Fällen keinen einzigen gebe, in dem sich die Angehörigen nicht an Polizei und Staatsanwaltschaft gewandt hätten.