Kurdische Ablehnung des Vertrags von Lausanne

                   Konferenz und Demonstration zum 75. Jahrestag

                   Kurdische Gruppen haben im Rahmen einer internationalen Konferenz daran erinnert, dass der von der Türkei gefeierte
                   Vertrag von Lausanne den Anspruch der Kurden auf Selbstbestimmung missachtet hatte. Gefordert wurden die Aufhebung
                   der Zersplitterung Kurdistans und ein Ende der türkischen Assimilierungs- und Vertreibungspolitik.

                   A. R. Lausanne, 25. Juli

                   In Lausanne haben kurdische Organisationen am Freitag und Samstag eine internationale Konferenz veranstaltet, um des vor 75 Jahren
                   unterzeichneten Lausanner Abkommens zu gedenken, dessen Auswirkungen auf die Bevölkerung Kurdistans zu analysieren und auf die
                   fortdauernde Unterdrückungspolitik Ankaras in der Osttürkei aufmerksam zu machen. In der Türkei, wo der Vertrag als eine Art
                   Geburtsurkunde der Republik verehrt wird, hatte die Veranstaltung bereits im Vorfeld wütende Kommentare ausgelöst. Nachdem die
                   Waadtländer Behörden es der Türkei nicht erlaubt hatten, eine offizielle Jubiläumsfeier im Palais de Rumine, dem Ort der
                   Vertragsunterzeichnung, durchzuführen, war die Bewilligung dieser kurdischen «Gegenveranstaltung» für Ankara doppelt bitter. Die
                   türkische Zeitung «Hürriyet» sprach am Samstag von einer «Separatistenkonferenz». Trotz solchen emotionellen Aufwallungen verlief das
                   von Sicherheitsvorkehrungen begleitete Treffen ungestört, ebenso die anschliessende Demonstration, an der laut Polizeiangaben 3000
                   Personen teilnahmen.

                   Triumph und Katastrophe

                   Die zahlreichen Redner waren sich darin einig, dass der damalige Vertrag für die kemalistische Türkei einen Triumph dargestellt habe, für
                   die übrigen Völker Kleinasiens - neben den Kurden auch Armenier, Pontusgriechen, Assyro-Chaldäer und andere - jedoch eine «nationale
                   Katastrophe». Von einem unabhängigen Armenien und der Option auf einen kurdischen Staat war in Lausanne im Unterschied zum 1920
                   unterzeichneten Friedensvertrag von Sèvres keine Rede mehr - zu sehr hatte sich in der Zwischenzeit die militärische Lage zugunsten der
                   türkischen Nationalisten gewendet. Wie es ein Vertreter der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ausdrückte, beruhte die Geburt der
                   türkischen Republik auf dem Leid der anderen Nationalitäten. Die Kurden seien in Lausanne weder vertreten gewesen noch konsultiert
                   worden. Das Abkommen markiere den Beginn der massiven Assimilierungspolitik Ankaras und der Entfernung der Bezeichnung
                   «Kurdistan» von der Landkarte; es sei ein Dokument der Teilung Kurdistans. Bei der Zerstückelung dieser Region bedeutete Lausanne
                   allerdings lediglich eine Zwischenetappe. Schon in Sèvres wurden willkürliche Grenzen durch die Region gezogen - weshalb kurdische
                   Nationalisten diesem Vertrag nicht nachtrauern. Die einschneidendste Trennlinie, jene zwischen der Türkei und dem kurdischen Nordirak,
                   wurde zudem erst einige Jahre später definitiv vereinbart.

                   Während Jahrestage wie dieser in Westeuropa wohl kaum die Gemüter erhitzen würden, beweisen die nervöse Reaktion der Türkei und die
                   kurdischen Stellungnahmen, dass Lausanne nach wie vor ein emotionsbeladenes Thema ist. Mehrere Referenten gingen auf die etwas
                   merkwürdige Frage ein, ob das Vertragswerk von 1923 überhaupt noch Gültigkeit besitze. Sie verneinten dies aus drei Gründen. Das
                   Abkommen sei von den politischen Veränderungen in der Zwischenzeit überholt worden, ohne die Mitwirkung der Kurden entstanden und
                   von der Türkei selber mehrfach verletzt worden. Damit wurde auf die Tatsache angespielt, dass die Türkei den im Vertrag verankerten
                   Garantien für die Minderheiten bis heute nicht nachlebt.

                   Einen anderen Schwerpunkt setzten zwei europäische Völkerrechtler, die der Frage nachgingen, ob die Kurden ein Recht auf
                   Selbstbestimmung besässen. Beide sahen die Voraussetzungen dafür eindeutig als gegeben an. Laut Norman Paech (Hamburg) kann dem
                   Selbstbestimmungsprinzip durch einfache Formen der Autonomie mit Anerkennung von Sprache und Kultur eines Minderheitenvolks
                   Genüge getan werden. Da Ankara dies den schätzungsweise 15 Millionen türkischen Kurden verweigert und ihre Menschenrechte massiv
                   verletzt, anerkannte Paech auch ein Sezessionsrecht. Dabei sei es legitim, wenn eine Befreiungsbewegung wie die PKK militärische Gewalt
                   anwende, solange sie nicht gegen die Haager und Genfer Konventionen verstosse. Terrorakte wie die Ermordung von Zivilisten seien
                   hingegen illegal, wobei man aber gerade im Fall der Türkei darauf hinweisen müsse, dass es auch einen staatlich geförderten Terrorismus
                   gebe. Anzufügen ist, dass der PKK-Chef Öcalan in einer Grussbotschaft einmal mehr seine Bereitschaft zu einem sofortigen
                   Waffenstillstand und zum Dialog mit Ankara bekräftigte, worauf die türkische Führung in der Vergangenheit nie eingetreten ist.

                   Unterwürfiger Europarat

                   Zahlreiche Referentinnen und Referenten warfen dem Westen vor, die Augen vor dem Unrecht in Türkisch-Kurdistan zu verschliessen. Die
                   Schweizer Nationalrätin Vermot-Mangold erinnerte an die düstere Rolle, die der Europarat diesen Sommer im Zusammenhang mit ihrem
                   Bericht über die kurdischen Vertriebenen gespielt hatte. Unter türkischem Druck und aus Rücksicht auf gewisse Sonderinteressen hatte die
                   Versammlung unter anderem jede Erwähnung der Kurden aus Vermot-Mangolds Empfehlungen gestrichen und die PKK einseitig als
                   terroristische Organisation charakterisiert. Die Schweizer Abgeordnete in Strassburg erklärte, der Europarat habe durch seine
                   Unterwürfigkeit seine Aufgabe als Hüter des humanitären Rechts verraten und sich zum Komplizen der Verantwortlichen für den
                   schmutzigen Krieg in der Osttürkei gemacht. Nach ihrer Ansicht muss über den Ausschluss der Türkei aus dem Europarat diskutiert
                   werden, sollten die europäischen Ermahnungen an Ankara weiterhin nichts fruchten.

                   Neue Zürcher Zeitung vom 27.07.98