Yedinci Gündem, 20.04.2002

Die Veränderung begann 1993

Cengiz Kapmaz / Istanbul

In der Öffentlichkeit ist die Auffassung verbreitet, dass die Strategieänderung der PKK mit Imrali [=der Gefangennahme des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan] begonnen hat. Grossen Einfluss an der Entstehung dieser Auffassung hatten die Medien. Dabei hat die Suche der PKK nach Veränderung und Erneuerung bereits vor neun Jahren begonnen. Diese Tatsache wird gerne übersehen. Indem die Medien eine Verbindung zwischen der Änderung und Imrali herstellten, wollten sie die Wirkung zerstören, die aus diesem Veränderungsprozess hervorgegangen ist.

Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre zerfielen nacheinander die auf dem Realsozialismus aufbauenden Systeme. Dieser Zerfall erforderte unausweichlich eine Erneuerung und Veränderung innerhalb der revolutionären Bewegungen. Einer derjenigen, der diese Unausweichlichkeit erkannte, war der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan. Angesichts der Entwicklungen, die nach 1993 mit der Auflösung des Realsozialismus und des Sowjetsystems entstanden, fasste Öcalan den Beschluss einer Neuordnung innerhalb der PKK. Es war die Zeit, den Kampf auf ein neues Fundament zu setzen. Aber wie? Dafür war zunächst ein Schweigen der Waffen notwendig.

Öcalan ruft zum Dialog auf

Öcalan erklärte am 17. März 1993 auf einer Pressekonferenz einen Waffenstillstand. Vor in- und ausländischen MedienvertreterInnen verwies er auf die Sinnlosigkeit der Suche nach einer Lösung durch eine weitere Intensivierung des bewaffneten Krieges und rief zum Dialog auf. Im Grunde genommen wollte Öcalan die Resultate des Krieges in die Politik einfliessen lassen. Um den Kampf vorwärts zu treiben und Probleme lösen zu können, erforderten die weltweiten und regionalen Entwicklungen neue politische Kampfmethoden. Während mit einer neuen Herangehensweise und anderen Methode nach einer Lösung gesucht wurde, geschah etwas völlig unerwartetes. Am 24. Mai 1993 wurde in Bingöl ein Militärfahrzeug unter Beschuss gesetzt, in dem sich Soldaten befanden, die auf dem Weg in den Urlaub waren. Bei dem Angriff wurden 33 Soldaten getötet. Dieser Angriff, der ausserhalb der Befehls-Kommandantur-Kette stattfand, reichte aus, um den Funken der Gewalt wieder zu aufflackern zu bringen. Die Region stand in Flammen. Die Gefechte gerieten ausser Kontrolle. Die Anzahl der Morde sogenannter unbekannter Täter ging in die Zehntausende, die der entvölkerten Dörfer in die Tausende.

Öcalan liess sich durch die Sabotage der ersten Waffenstillstandsoffensive nicht beirren. Am 15. Dezember 1995 erliess er eine zweite Waffenruhe und rief erneut zum Dialog auf. Aber dieser Aufruf stiess auf kein positives Echo innerhalb des Staates. Die damalige Premierministerin Tansu Ciller erklärte den Aufruf zu einer Taktik, die die PKK einsetze, weil sie sich in der Auflösung befinde und Zeit für eine Neuordnung brauche. Diese Gelgenheit werde der PKK nicht gegeben werden, so betonte Ciller. Direkt im Anschluss an dieses Statement begannen wieder die Waffen zu sprechen. Im Rahmen der "Operation Stahl" führte die türkische Armee auch über die Staatsgrenzen hinaus Operationen durch und es kam zu sehr heftigen Gefechten mit der PKK-Guerilla.

Veränderungsbewusstsein im Kader

Beide Waffenstillstandsinitiativen waren ergebnislos geblieben. Um innerhalb der PKK einen Neustrukturierungsprozess einleiten zu können, mussten die Waffen schweigen. Einen grossen Anteil am Scheitern der Waffenruhe hatte das von der Gegenseite und aus dem Inneren kommende Bandentum. Es war nicht möglich, diese Tendenzen einzugrenzen und unter Kontrolle zu bringen. In seiner Wut auf die Saboteure des Dialogs und Friedensprozesses war der Kader dafür, noch mehr Krieg zu führen und gegen diese Kräfte mit aller Gewalt vorzugehen. Die Organisationsstruktur und die Tendenzen, die der Organisation von innen aufgedrängt wurden, liessen keine auf eine strategische Änderung ausgerichteten Schritte zu. Eigentlich war geplant, auf dem direkt nach den Gefechten von 1994 durchgeführten 5. Kongress eine Veränderung in Struktur und Selbstverständnis der Organisation zu vollziehen. Der Kongress sollte ein Art Reformkongress werden. Aufgrund der durch die gewalttätigen Gefechte in den Jahren 1993-94 hervorgerufenen geistigen Verfassung, die sich auf den Kongress auswirkte, blieb es jedoch lediglich bei formellen Veränderungen. So wurde beispielsweise beschlossen, Hammer und Sichel als Assoziation zum Realsozialismus aus der Fahne zu entfernen. Die Veränderung blieb begrenzt auf formelle Reformen.

Zeit für mutigere Schritte

Öcalan erkannte, dass die Zeit des bewaffneten Kampfes vollendet ist. Er dachte, dass ein Beharren auf den Waffen die Probleme verschärfen und vermehren würde. Somit war die Zeit für ein mutiges Vorgehen und Schritte zu einer radikalen Veränderung herangereift. Im Jahr 1998 lag eine Pattsituation vor, die sich nur noch wiederholte. Guerilla und Staat konnten weder weiterkommen noch die Gegenseite zurückschlagen. Die Lage war ins Stocken geraten. Am 1. September 1998 rief Öcalan zum dritten Mal zum Waffenstillstand aus. Und in einer Bewertung der Lage, die er am 13. August 1998 abgab, kündigte er eine komplette Neustrukturierung und -positionierung an. Von den PKK-Mitgliedern forderte er gemäss den Erforderlichkeiten der neuen Phase ebenfalls eine Veränderung.

Zum interessanten Timing des Komplotts

Der Waffenstillstand von 1998 war ein strategischer Schritt für die Entwicklung der Lösung und die Änderung der Kampfmethoden. Jetzt musste das dafür Notwendige erfüllt werden. Um die Bedingungen für eine Veränderung zu schaffen, wurde ein intensiver Diskussionsprozess eingeleitet. Um den Kader der neuen Phase anzupassen, wurde auf Hochtouren gearbeitet. In dieser Hinsicht war der 6. Kongress von stragischer Bedeutung. Während die Vorbereitungen auf den Kongress liefen, entstand zwischen der Türkei und Syrien die Öcalan-Krise. Die Rechnung war offensichtlich. Die Türkei setzte darauf, dass die PKK sich ohne Öcalan nicht verändern könne und die auf dem 6. Kongress stattfindenden Diskussionen um eine Veränderung die PKK spalten werde. Es war genau die richtige Zeit, um die PKK und Öcalan voneinander zu trennen. In diesem Rahmen trat der internationale Komplott auf den Plan. Der Druck auf Syrien wurden jeden Tag stärker. Krieg stand vor der Tür. Um die eigene Überzeugungskraft zu verstärken, verlegte die türkische Armee Truppen an die syrische Grenze. Langstreckenraketen wurden auf Syrien ausgerichtet. Alles hielt den Atem an und beobachtete gespannt den weiteren Verlauf der Entwicklungen. Als die Angelegenheit aus der Bahn zu laufen schien, schalteten sich internationale Diplomaten ein. Um einen möglichen Krieg zu verhindern, war der Staatspräsident Ägyptens, Hüsnü Mübarek, diplomatisch in Damaskus und Ankara tätig.

Fortsetzung des Krieges oder...

Öcalan ahnte, dass sich der Kreis des internationalen Komplotts täglich enger zog. Er hatte zwei Alternativen: entweder in die Berge zu gehen und den Krieg fortzusetzen oder die Initiative für eine neue Phase zu ergreifen. Er fällte die Entscheidung, nach Europa zu gehen, um dort den Kampf für eine Lösung des Problems mit demokratischen politischen Methoden fortzuführen. Als er sich nach Europa aufmachte, stand er unter ständiger Beobachtung internationaler Geheimdienste. Jedes Land, an dessen Tür er klopfte, wurde entweder von der Türkei bedroht oder mit Geld gekauft. Auf seiner Station in Rom während seiner Europatournee präsentierte er der Öffentlichkeit ein acht Artikel umfassendes Lösungspaket. Die PKK rief er auf, sich entsprechend seines vorgeschlagenen Lösungspaketes neu zu strukturieren. Aber die am 9. Oktober 1998 begonnene Europareise Öcalans endete als Ergebnis eines internationalen Komplotts am 15. Februar 1999 in der Türkei. Am 23. Februar wurde Öcalan vom 2. Staatssicherheitsgericht in Ankara offiziell verhaftet. Danach wurde er in das Gefängnis Imrali überführt, das speziell für ihn hergerichtet wurde. Die Augen der Welt waren von nun an auf Imrali gerichtet. In den Medien wurde darüber gestritten, ob Öcalan hingerichtet werden könne oder nicht. Es wurden regelrecht Wetten über die Vollstreckung der Todesstrafe abgeschlossen.

Der Prozess des Jahrhunderts beginnt

Der erwartete Tag war gekommen. Die Augen waren auf Öcalans Gerichtsverfahren gerichtet. Die Verhandlung dauerte 15 Tage. 15 Tage lang stand die Türkei mit Öcalan auf und legte sich mit Öcalan hin. Kriegsprovokateure führten täglich Protestkundgebungen für die Hinrichtung Öcalans durch. Auf den Strassen herrschte Lynchatmosphäre. Um für schuldig erklärt zu werden, war es ausreichend, Kurde zu sein oder kurdisch auszusehen. Während der gesamten Verhandlungsdauer führte Öcalan aus, nicht er habe die kurdische Frage geschaffen. Seine Botschaft lautete: "Es ist die Zeit gekommen, endlich den erlittenen Schmerz zu beenden. Beenden wir das Problem." Die Verteidigung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan, die von der ganzen Welt aufmerksam verfolgt wurde, erschütterte das Gleichgewicht in Europa und dem Mittleren Osten. Während die Kreise in der Türkei und Europa, die aus dem Krieg Profit schlagen, erwartet hatten, dass mit Öcalans Gefangennahme heftige Gefechte ausbrechen würden, erläuterte Öcalan vor Gericht das Projekt "Demokratische Republik" und machte diese Erwartungen damit zunicht. Das Gerichtsurteil lautete auf Todesstrafe. Die Türkei befand sich plötzlich mitten in der Diskussion darüber, ob die Todesstrafe vollstreckt wird. Um die Geschwisterlichkeit im Rahmen des vor Gericht zur Sprache gebrachten Friedensplanes zu festigen, richtete Öcalan am 2. August 1999 einen Aufruf an die PKK, den bewaffneten Kampf am 1. September 1999 zu beenden und ihre Kräfte vom Territorium der Türkei abzuziehen. Die Antwort auf Öcalans Aufruf folgte kurze Zeit später mit einer Erklärung des PKK-Präsidialrats. In der Erklärung wurde mitgeteilt, der Präsidialrat begreife den Aufruf als eine historische Pflicht und werde die Guerilla stufenweise zurückziehen. Auch die seit Öcalans Verschleppung nach Imrali täglich stattfindenden Aktionen, Demonstrationen und Überfälle, mit denen Metropolen wie Istanbul, Izmir, Mersin und Adana in Höllenschauplätze verwandelt wurden, und die Besetzungen, mit denen die Kurden Europa erschütterten, wurden mit Öcalans Aufruf beendet.

Die Friedensgruppen in der Türkei

Während der Rückzug der Guerilla noch andauerte, gab der PKK-Vorsitzende am 22. September von der Gefängnisinsel Imrali aus eine neue Erklärung ab. In einem zweiten Aufruf an den Präsidialrat forderte Öcalan, eine Guerillagruppe solle als "Unterstützung der demokratischen Republik und Zeichen guter Absicht" in die Türkei kommen. Unter Führung von Ali Sapan, dem ehemaligen Europasprecher der ERNK, die am 1. Oktober 1999 aufgelöst wurde, betrat eine achtköpfige Guerillagruppe vom Dorf Geli Sin bei Semdinli aus, wo vor 15 Jahren die erste Kugel abeschossen worden war, die Türkei. Auch wenn die Initiative der PKK keine Entgegnung von Seiten des Staates fand, fuhr Öcalan mit seinen Bemühungen fort. In einem dritten Aufruf von Imrali aus forderte er eine weitere PKK-Gruppe dazu auf, am 29. Oktober, dem 76. Jahrestag der Republiksgründung, in die Türkei zu kommen. Die zweite "Gruppe für Frieden und eine demokratische Lösung" unter Leitung von Haydar Ergül flog am 29. Oktober 1999 von Wien aus in die Türkei. Die Mitglieder beider Gruppen wurden verhaftet, ins Gefängnis gesteckt und zu hohen Haftstrafen verurteilt.

Spannungsreicher Kongress

Die Augen richteten sich einerseits auf Imrali, andererseits auf den 7. PKK-Kongress. Wie würde die Organisation die Strategie der neuen Phase aufnehmen? Würde der Kongress tatsächlich in der von Imrali aus geforderten Form einer strategischen Änderung zustimmen? Bei den Parteikadern herrschte Verwirrung, Unentschlossenheit, Bedenken und Sorge. Verschiedene Kreise, die die Gelegenheit erkannten, hatten bereits auf den Knopf gedrückt, um sich ihre eigene PKK zu erschaffen. Der Kongress begann in gespannter Atmosphäre und wurde zur Bühne der umfassendsten und hitzigsten Diskussionen in der Parteigeschichte. Die Verhaftung Öcalans hatte die Frage aufgeworfen, wer die Partei in der Praxis leiten werde. Die Schaffung entsprechender Mechanismen, mit denen die Lücke gefüllt werden konnte, brachte ernste Schwierigkeiten hervor. Es gab Gruppen, die erklärten, alles laufe auf eine Lösung hinaus: "Eine Organisation ist nicht notwendig, wir sollten uns auflösen." Und andere Gruppen wollten die Vernichtung der Organisation beschleunigen, indem sie für gar keine Führung eintraten. Aber diese Spiele beim Kongress gingen nicht auf. Der Kongress endete mit dem Beschluss, die Strategie zu ändern. Anstatt der beim 2. PKK-Kongress beschlossenen Strategie des Volkskrieges und nationalen Befreiungskampfes wurde die neue Linie der "Strategie des demokratischen politischen Kampfes" angenommen.

Nachdem die Berechnungen anlässlich des Kongresses nicht aufgegangen waren, kam es im Sommer 2000 zu Provokationen, mit denen eine innere Auflösung der PKK erreicht werden sollte. Unter Führung von Dr. Zeki verliess eine Gruppe die Partei. Als auch diese Provokation nicht zündete, wurde auf einen bewaffneten Angriff durch die PUK gesetzt. Der 7. Kongress hatte zwar mit seinen Beschlüssen ein neues System geschaffen, allerdings war noch nicht klar, ob der unentschlossene und in Zuschauerposition verharrende Kader diesem System beitreten werde. Um diese Unklarheit zu überwinden und den Kader zu erneuern, begann eine intensive Ausbildungsphase in der Partei. In Ausbildungsschulen, die im Koordinationszentrum eingerichtet wurden, wurden Tausende von Kadern im Licht der neuen Strategie geschult. Gegen die Vernichtungstendenzen wurde angegangen.

Die Massen stimmen der neuen Strategie zu

Bei der zweiten Parteiratsversammlung nach dem 7. Kongress wurde ein Aktionsprogramm zur demokratischen Lösung der kurdischen Frage beschlossen. Während die Zeit bis zur 2. Parteiratsversammlung von der PKK als Phase interner Diskussion bewertet wurde, nannte sie den neuen Aktionsplan "Phase der taktischen Offensive". Es galt, keine weitere Zeit mehr mit internen Diskussionen zu verlieren, sondern die Ärmel hochzukrempeln, um die Aufgaben zu erfüllen, die die neue Strategie aufgebracht hatte. Am 31. Mai 2001 begann in Europa die Kampagne "Identitätsmitteilung". Unter dem Motto "Wir sind alle PKK" beteiligten sich daran Tausende von Menschen. Auf die zweite Parteiratsversammlung folgte zwischen dem 5. und 22. August 2001 die 6. Nationale Konferenz. Auf der Konferenz wurde die Umsetzung der "taktischen Offensivphase" in die Praxis beschlossen.

Eingaben an den EuMRGh

Am 31. August 2001 waren dann die Eingaben des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan an den EuMRGh fertig, die unter dem Namen "Vom sumerischen Priesterstaat zur demokratischen Republik" als Manifest der neuen Zeit theoretische und philosophische Analysen beinhalten. Mit den Eingaben zeigte Öcalan auf, wie die ideologische Identität der neuen Zeit sein muss. Die PKK beschleunigte gemäss den Eingaben ihre Neustrukturierung. An den Schulen, an denen der gesamte Kader unterrichtet wurde, wurden die Eingaben zur Hauptunterrichtsquelle. Den Eingaben folgten die Aktionen der Studierenden, die in Anträgen an die Universitätsleitung die Einführung von Kurdischunterricht als Wahlfach forderten. Newroz 2002 wurde förmlich zum Referandum für die neue Strategie. In der Türkei und der Welt gingen die Menschen zu Millionen auf die Strassen und machten unüberhörbar deutlich, dass sie das Politisierungsprogramm angenommen haben.