Özgür Politika, 14. März 2002

Lösung kann nicht verschoben werden

Interview mit PKK-Präsdialratsmitglied Nizamettin Tas zur aktuellen Situation in Kurdistan, der Türkei und dem Mittleren Osten

NURDOGAN AYDOGAN

Was können Sie zu den die Türkei und Kurdistan betreffenden Teilen des Menschenrechtsberichts des US-Aussenministeriums sagen?

Dieser und andere internationale Berichte sind Berichte über die jeweilige Situation, in der die Türkei sich gerade befindet. Es muss nicht der Lehrer für das schlechte Zeugnis veranwortlich gemacht werden. Während es eigentlich notwendig wäre, dass die Türkei im 21. Jahrhundert demokratische und zeitgenössische Maßstäbe anwendet, weist sie eine falsche Erklärungs- und Verteidigungslogik auf. Das System der Türkei wird heutzutage im Vergleich mit modernen, demokratischen Maßstäben auf den Tisch gebracht. Die Welt und vor allem die USA, die als "nächster Bündnispartner" bezeichnet wird, ist an den Punkt gekommen, das nicht länger zu tragen. Daran will der Bericht die Türkei erinnern. Die komplexbeladene Situation in der türkischen Politik konnte nicht überwunden werden und ist Grund für den momentanen Entwicklungsstau. (...) Es ist eine Tatsache, dass wegen des Krieges jahrelang eine Demokratisierung verhindert und Menschenrechte verletzt wurden, und dass mit dieser Begründung von den Verbündeten Unterstützung geleistet wurde. Aber heutzutage findet das Beharren auf dieser Begründung keine Akzeptanz mehr. Je mehr die Türkei darauf beharrt, desto mehr wird sie schrumpfen. Es ist ebenfalls eine Tatsache, dass die kurdische Frage in unverschiebbarer Form auf die Tagesordnung der Region und der Welt gekommen ist. Die Erwähnung in dem US-Bericht einer "kurdische Minderheit" verweist zumindest darauf, dass die Existenz des Problemes als solches wahrgenommen wird. Ohne die Lösung der kurdischen Frage kann heute im Mittleren Osten keine bleibende Lösung erschaffen werden.

Welchen Einfluss könnte der Mittelost-Besuch des stellvertretenden US-Präsidenten Dick Cheney in Hinsicht auf die US-Politik in der Region haben?

Die internationalen Kräfte unter Führung der USA haben eine Neuordnung des Mittleren Ostens auf den Tisch gebracht. Während mit dem Irak der Anfang gemacht und damit eine halberledigte Angelegenheit vervollständigt werden soll, ist eine weitere Frage auf die Tagesordnung gebracht worden, die innerhalb der Region eine Schlüsselposition innehat. Dabei handelt es sich um die kurdische Frage. Ohne die kurdische Frage anzugehen, kann für die Irakfrage keine Lösung gefunden werden. Dass die Irak-Intervention so verwickelt ist, resultiert auch aus der kurdischen Frage, die darin verborgen ist. Auch die betreffenden regionalen Staaten werden gefordert sein, eine Antwort zu diesem Thema zu bringen. In der momentanen Situation ist ein gewisses Widerstandsbündnis gegen eine Veränderung sichtbar. Der Widerstand gegen die US-Pläne sticht ins Auge. Die Reise des stellvertretenden US-Präsidenten bezweckt, diese Probleme zu überwinden und die praktische Anwendung zu klären.

Wie kann der Besuch Celal Talabanis in Ankara in diesem Rahmen bewertet werden?

Die Auslandsbesuche der kurdischen Führer verfolgen den Zweck, innerhalb dieses Planes eine Rolle einzunehmen. Auch ihre Verantwortung hat sich erhöht. Eine Herangehensweise, die anstatt einer generellen Lösung kurzfristige Profite für die jeweilige Organisation oder Person verfolgt, führt zu nichts Gutem. Die Führer haben auch eine historische Verantwortung. Ein ernsthafter Mangel ist das Fehlen eines Gesamtprojektes die Demokratisierung und kurdische Frage betreffend. (...) Der Boden für eine komplette Lösung reift zunehmend heran. Eine Mißachtung der kurdischen Dynamik und Vorteile durch diese Führer, die lediglich auf Unterstützung von und Beziehungen mit dem Ausland bauen, kommt gleichzeitig der Zerstörung durch eigene Hand dieses herangereiften Bodens gleich.

Vor ein paar Tagen waren die Anti-EU-Äusserungen des MGK-Generalsekretärs Tuncer Kilic im Gespräch. Welche Bedeutung haben diese Erklärungen Tuncers?

Es handelt sich dabei um eine Erpressung nach dem Motto, "akzeptiert mich wie ich bin, wenn euch das allzu schwer fällt, habe ich auch noch andere Alternativen", die sich gegen die Bemühungen richtet, in der Türkei moderne demokratische Maßstäbe einzuführen. Die Verfolgung einer konjunkturellen Politik, die auf den Widersprüchen zwischen den Staaten der Region und der Welt aufbaut, mag vielleicht kurzfristige Vorteile erbringen, im Ganzen richtet es jedoch grossen Schaden an. Das ureigenste Problem des Staates TR ist die Demokratisierung und die kurdische Frage. Diese kann niemandem anderen aufgehalst werden und ebenso wenig kann eine ablehnende Haltung eingenommen werden, bloss weil die Thematisierung des Problems von aussen kommt. Und so haben auch alle verantwortlichen politischen Kreise, die an die Entwicklung und Vorteile der Türkei denken, es vermocht, die notwendige Anwort zu geben. Es ist bekannt, dass die Erklärung Kilic' von denen kommt, die die Türkei wieder in die Sackgasse führen wollen. Wir erwarten allerdings keine Wirkung davon. Denn in der Türkei entwickeln sich eine bedeutsame Aufmerksamkeit und der Wunsch nach Demokratie.

Kann das erneut auf die Tagesordnung gebrachte "Reuegesetz" eine Lösung für die Probleme darstellen? Was für eine gesetzliche Regelung ist nötig für eine bleibende Lösung?

Das Reuegesetz hat bereits in der Vergangenheit niemals zu einer Lösung beigetragen. Von den entsprechenden Anträgen sind ohnehin 95% abgelehnt worden. Während die "Reuigen" bereuen, finden sie sich in einem Teufelskreis wieder, wenn sie vom Staat nicht das erwartete Ergebnis erhalten können und es zur Wiederholung kommt. Die Logik der unüberwundenen Rache und des blossen Profitdenkens spielt dabei eine grosse Rolle. Wonach heute Bedarf besteht, ist ein gesellschaftlicher Frieden nach einem langen und zermürbenden Krieg. Insofern besteht das Bedürfnis nach darauf ausgerichteten Gesetzesregelungen und Strukturierungen. Für einen bleibenden Frieden ist eine Generalamnestie nötig. Innerhalb des Staates gibt es das Problem, zu diesem Thema einen politischen Willen zu entwickeln. Das ist das grösste Hindernis vor einer Lösung. Die Schritte der PKK der letzten drei Jahre haben in der Türkei zu einer weitreichenden Entspannung geführt; dass wir eine ausreichende Entgegnung darauf gesehen haben, können wir nicht sagen. Den Friedensgruppen ist mit hohen Strafen geantwortet worden, obwohl sie an keiner bewaffneten Aktion teilgenommen haben. Dabei handelt es sich um ein Bestehen auf der Nichtlösung mit einer auf Rache aufbauenden Herangehensweise nach dem Motto: "Der Staat bin ich und ich fordere Rechenschaft". Wenn das jüngste Gesetz in der gleichen Form und Logik wie in der Vergangenheit angegangen wird, wird sich daraus eine Wiederholung ergeben, die keine Lösung beinhaltet. Die Hervorstellung der Lage des Führungskaders hat keine grosse Bedeutung. Der Führungskader kann auch aussen vor bleiben. Wir verstehen die Sensibilität in der momentanen politischen Atmosphäre. Der Punkt, der für uns wichtig ist, ist folgender: In wieweit wird die Vergangenheit im Verständnis überwunden? In welchem Aussmass wird die Rachementalität überwunden und wie wird zum gesellschaftlichen Frieden beigetragen werden? Wenn die klassische ablehnende Haltung der Vergangenheit beibehalten wird, sind wir nicht mit dabei. Ohne das Gesetz in eine rationellere, auf eine Lösung ausgerichtete Form zu bringen, wird damit kein Resultat zu erzielen sein. Die Friedensgruppen sind dabei für uns Maßstab. Niemand wird schwere Strafen und Knast dem momentanen Leben vorziehen.