Özgür Politika, 1. Februar 2002

Muttersprache nicht aufgeben!

MHA / FRANKFURT
Der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan hat im Verweis auf die Kriegsprovokationen gegen die von kurdischen Studierenden und Eltern gestartete Kampagne für muttersprachlichen Unterricht zu besonnenem Verhalten aufgerufen. Weiter sagte er: "Was vorliegt, ist der Wunsch eines Volkes nach Weiterentwicklung der eigenen Sprache mit eigenen Möglichkeiten."
In seiner jüngsten Bewertung der Situation teilte Öcalan seine Meinung zur Muttersprachenkampagne mit. Er verwies darauf, dass aus den gestellten Anträgen rechtliche Resultate entstehen müssen. "Es wird zum Krieg provoziert. Solange ich die Kraft dazu habe, werde ich mein Volk davon fernhalten. Auch was die Gesuche angeht, müssen wir uns besonnen verhalten. Wir werden es nicht zulassen, dass das Blut von Geschwistern vergossen wird. Aber das bedeutet keinesfalls, dass wir unsere Muttersprache aufgeben." Öcalan erklärte, bestimmte Kreise verfolgten in der stattfindenden Diskussion um die Kampagne eine gefährliche, auf Verzerrungen aufbauende Politik. "Niemand soll mich falsch verstehen. Selbst ein Spatz hat seine eigene Sprache. Man kann nicht von einem Spatzen verlangen, andere Töne hervorzubringen. Ein Spatz ist ein Spatz, er hat seine eigene Sprache. Was getan wird, ist schlichtweg unmoralisch. Alles wird verdreht, dabei fordern wir doch überhaupt nicht, dass kurdisch zur zweiten Amtssprache des Staates wird. Das Recht auf die eigene Muttersprache ist ein ganz natürliches, ein grundlegendes Menschenrecht. Wir wollen gemäss unserer eigenen Kompetenzen die Sprache weiterentwickeln. Der Staat darf dem kein Hindernis in den Weg stellen."

Das Beispiel Bulgarien

Zum Thema Sprache verwies Öcalan auf die Lage der in Bulgarien lebenden TürkInnen. "Wenn in Bulgarien etwas ähnliches wie hier stattfinden würde, würde der jüngste Tag einbrechen. [Der türkische Staat] verhält sich inkonsequent und unaufrichtig. Kurdisch wird als türkischer Dialekt bezeichnet. Handelt es sich beim Aserbaidschanischen nicht um einen türkischen Dialekt? Und wenn es ein Dialekt wäre, würde ich trotzdem das Recht auf Unterricht einfordern. Wenn Kinder in der Schule das ABC in ihrer eigenen Sprache lernen, kann es sich dabei doch nicht um eine politische Sache handeln. Wie kann es als Politikum bezeichnet werden, wenn sieben- bis zehnjährige Kinder ihre eigene Sprache lernen? Erst das Verbot macht die Sache zum Politikum. Dabei handelt es sich um eine gefährliche Politik, die da lautet: "Wir wollen euch vernichten." Sie bedeutet Aufstachelung zum Aufstand und Separatismus."

Weiterhin forderte Öcalan, sich zum Thema Unterricht sinnvoller zu verhalten als das Militär. Die Türkei werde mit ihrer Verbotspolitik nirgendwo hinkommen. "Sie selbst politisieren die Angelegenheit. Verbote aufstellen bedeutet politisieren. Selbst Saddam, den sie nicht mögen und als Diktator bezeichnen, lässt das Kurdische bis hin zu den Universitäten gelten. Auch im Iran unterliegt Kurdisch keinen Beschränkungen. Wie will die Türkei mit ihrer Verbotspolitik einen Platz auf der Welt einnehmen?"

Botschaft an die JuristInnen

Öcalan unterstrich die Notwendigkeit, bei der Nutzung des Rechtes auf Antragstellung jegliches Verhalten zu vermeiden, das eine Provokation darstellen könne, und keine provokativen Methoden anzuwenden. Die Bevölkerung rief er zum Kurdischlernen auf: "Studiert die kurdische Sprache und Literatur in den Stadtvierteln, Dörfern und Wohnungen. Jeder soll in seinem eigenen Viertel und seiner Umgebung bewusstseinsbildend auf jeden einwirken. Das Kurdische muss gründlicher erlernt werden." An die JuristInnen gerichtet erklärte Öcalan: "Ihr seid Zehntausende von AnwältInnen und hättet zum Thema Anwendung von Rechten das Volk anführen müssen. Ihr selbst erlebt eine Entfremdung zum Thema Rechtswesen, euch fehlt die Überzeugung. Ihr hättet daran arbeiten müssen, euer eigenes Volk über seine grundlegenden Rechte aufklären müssen."

Frei oder gar nicht

Von den JuristInnen forderte Öcalan ausserdem, auf der Grundlage der drei Generationen von Rechten zu arbeiten. [Anm.: 1. individuelle Menschen-/Grundrechte, 2. politische und bürgerliche Rechte und 3. soziale und ökonomische Rechte] Wenn Vorarbeit zum Thema Anwendung dieser Rechte auf die Kurden geleistet worden wäre, wären möglicherweise gar nicht so viele Probleme entstanden. Für eine demokratische Türkei müssten die Menschenrechte ins Zentrum des Rechtswesens gestellt werden. Zum Thema Rechtsstaat dürften niemals Zugeständnisse gemacht werden. Ein auf das Rechtswesen aufbauender Wandel sei die Aufgabe aller, einschliesslich der PKK. Weiterhin richtete Öcalan folgenden Aufruf an die JuristInnen: "Setzt die Forderungen des kurdischen Volkes in eine juristische Sprache. Setzt euch für die Menschenrechte des kurdischen Volkes ein. Dafür habe ich vierzig Jahre lang gekämpft. ´Wenn es ein Leben geben soll, dann entweder frei oder gar nicht`. Das habe ich zu meiner Mutter gesagt, als ich sieben Jahre alt war."

´Ich glaube aus tiefstem Herzen an die Geschwisterlichkeit`

Das müsse auch die Überzeugung beider Seiten sein, betonte Öcalan. Der PKK-Vorsitzende forderte weiter zur Vorsicht vor denjenigen auf, die inner- und ausserhalb der Regierung Profit aus der Fortsetzung der Konflikte schlagen. "Sie wollen mich benutzen. Aufhängen können sie mich, aber sie werden mich niemals für ihre Spiele benutzen können. Mein Wunsch nach einer demokratischen Einigung resultierte nicht aus der Angst vor dem Tod. Ich habe nicht meinen eigenen Tod gefürchtet, sondern den von Zehntausenden. Und davor habe ich immer noch Angst. Um diese Angst loszuwerden, arbeite ich angestrengt. Der Tod kommt sowieso jeden Tag näher, ein Menschenleben dauert natürlicherweise nur sechzig, siebzig Jahre an. Ob fünf Jahre früher oder später, ist dabei nicht so wichtig." Weiter sagte Öcalan: "Ich verhalte mich nicht feindlich dem türkischen Volk gegenüber und ich veranlasse auch niemanden anders dazu. Aus Liebe zu ihrem Volk haben tausende von türkischen Revolutionären ihr Leben gelassen.. Wir lassen keine Feindschaft zwischen dem türkischen und dem kurdischen Volk entstehen. Wir wollen in Demokratie leben und arbeiten daran, einen Geschwisterkrieg zu verhindern. Auch wir haben Fehler gemacht, aber ich versuche, diese zu stoppen. Ich tue alles, was in meiner Macht steht. Diese Fehler resultierten auch nicht aus meiner Person, sondern aus dem Bandentum innerhalb der PKK, aus Semdin und der Viererbande. [Anm.: feudal/patriarchal/primitiv-nationalistisch eingestellte Kreise in der PKK] Ich betone ein weiteres Mal, dass ich aus tiefstem Herzen an die türkisch-kurdische Geschwisterlichkeit glaube."

Linie der demokratischen Einheit

Öcalan erinnerte daran, dass es sich bei dem Wort Kurdistan um eine geographische Bezeichnung handele. "Kurdistan ist ein geographisches Gebiet. Das lässt sich nicht ändern. Das ist so wie Galileo, der darauf bestanden hat, dass sich die Erde dreht. Ob man will oder nicht, die Erde dreht sich. Darüber hinaus haben nicht wir den Begriff Kurdistan erfunden. Den gab es schon bei Sultan Sancar und bei Mustafa Kemal. Erstmalig haben die Türken das Wort benutzt."

Öcalan brachte weiterhin die Notwendigkeit zur Sprache, für eine demokratische Einheit in der neuen Zeitphase verschiedene Organisationen aufzusuchen und Diskussionsplattformen zu errichten. "Die Türkei braucht neue Gedanken. Es können Diskussionen aufgebracht werden, die Minderheiten, marginale Gruppen und sogar Umweltschutzorganisationen einschliessen. Wichtig dabei ist es, die demokratische Linie einzuhalten."

Zu den Entwicklungen im Mittleren Osten erklärte Abdullah Öcalan, die Probleme könnten nicht durch das Errichten von Mauern gelöst werden. Die Demokratie im Mittleren Osten müsse intensiv entwickelt werden, um "das Gift des Nationalismus zu überwinden, welches die Entwicklung des Mittleren Ostens verhindert. Wenn es eine israelisch-palästinensische demokratische Einheit gegeben hätte, wäre die Situation jetzt besser. Es ist keine Lösung, durch die Mitte Jerusalems eine zehn Meter dicke Mauer zu ziehen. Auch die Berliner Mauer wurde niedergerissen. Künstliche Mauern stürzen letztendlich ein. Nationalismus und Chauvinismus resultieren aus Fanatismus. Die Probleme des Mittleren Osten werden nur mit Demokratie gelöst werden. Ein demokratischer Irak bedeutet einen demokratischen Mittleren Osten. Die Demokratisierung ist wichtig. Die Autonomie-Lösung weist Anzeichen von Feudalismus auf. Ich habe gesagt, dass für die Demokratisierung auf der Basis der Selbstverteidigung eine grenzenlose Kraft aufgebaut werden soll. Allerdings sollte kein Krieg wegen einzelnen Wörtern stattfinden. Mit Wörtern, auf die allergisch reagiert wird, sollte sich nicht lange aufgehalten werden."