Özgür Politika, 31.01.2002

Der Kulturrevolution entgegen

Von PINAR SELEK

Schaut nicht auf die Festnahmen, Verhaftungen, Drohungen, Disziplinarausschüsse und "ausserordentlichen" Erklärungen - die Muttersprachenforderung hat schon jetzt den Sieg errungen. Die sich fürchten vor der Forderung nach kulturellen Rechten, die versuchen, diese Forderung zu terrorisieren, sie können ihre Unterstützer längst nicht mehr wie in der Vergangenheit festhalten. Es ist das erste Mal, dass es um die "offiziellen Kreise" zu einem Thema, das in direkter Verbindung zur kurdischen Frage steht, so einsam geworden ist. Und die Frage des von Studierenden und Familien geforderten Rechtes auf kurdischen Unterricht hat bereits einen sehr viel weiter fortgeschrittenen Punkt erreicht, als die Diskussionen vom letzten Jahr um kurdisches Fernsehen. Bekanntermassen fand diese Diskussion mehr in Zusammenhang mit den Beziehungen zur EU statt. Als Spannungen in diesen Beziehungen auftraten, wurde auch die Diskussion ad acta gelegt. Die Muttersprachenforderung dagegen hat sich überall im Land auf Initiative der Zivilbevölkerung entwickelt. Schon jetzt ist der Preis dafür hoch. Neben den Verhaftungen sind ausserdem tausende von Studierenden mit der Gefahr konfrontiert, der Universität verwiesen zu werden. Darüber hinaus weist die beginnende Beteiligung von Eltern schulpflichtiger Kinder an der Kampagne auf eine mögliche Mobilisierung Hunderttausender, wenn nicht gar von Millionen von Menschen in den kommenden Tagen hin. Die grosse Wirkung, die die sich noch am Anfang befindliche und vollkommen auf zivile Kräfte stützende Kampagne in der Öffentlichkeit hervorgerufen hat, sowie die Diskussionen, die nicht nur in Zusammenhang mit auf die EU ausgerichteten Harmonisierungsversuchen stehen und die aus dem Wunsch heraus, dieses die Bevölkerung in Bewegung versetzende Problem ohne einen Krieg zu lösen, geführt werden, verweisen auf die bedeutsame Herausbildung der Möglichkeit eines gesellschaftlichen Wandels.

Aber um einen solchen gesellschaftlichen Wandel erfolgreich vollziehen zu können, der in unserer Gegend einer Revolution gleichkommen würde, sind wir gezwungen, gewisse Angewohnheiten schnellsten zu überwinden, die immer noch Einfluss auf uns ausüben. Bekannterweise gibt es im Kampf für Muttersprache und alle weiteren kulturellen Rechte eine juristische und eine politische Dimension. Jedoch haben wir sowohl die Politik als auch das Rechtswesen immer auf männerspezifischer Weise erlernt. Deshalb hat die Übertragung unseres politischen oder rechtlichen Kampfes auf das Leben auch immer auf einem rückständigen Niveau stattgefunden.

Die Entfernung der Politik vom Leben ist eine grundlegende Eigenschaft des Patriarchats. Es ist eine tote Politik. Sie findet keine Entsprechung im Leben. Und deshalb wird sie maskiert gemacht. Sie ist unaufrichtig und hat zwei Gesichter. Diese Politik dient als Vorhang, um billigste Gefühle zu verdecken. Beispielsweise lässt sie den Mann, der sich vor der stärker werdenden Frau fürchtet und in der Beziehung zu ihr kontinuierlich die eigene Herrschaft reproduziert, Reden über die Frauenbefreiung schwingen. Diese Politik macht aus denen Revolutionäre, die diskriminierte, verachtete Menschen keines Blickes würdigen. Sie stellt im Namen des Volkes Karrieristen in den Vordergrund, die niemanden ausser sich selbst lieben. Und sagen wir jetzt nicht, was hat diese Politik mit uns zu tun. Auch wenn auf diesen Böden ein ganz neuer und anderer Brauch heranwächst, so sind wir doch mit dieser Politik behaftet. Wir haben uns an sie gewöhnt. Der Versuch, sie zu überwinden, fällt nicht leicht. Wir umarmen das Leben nicht; es gelingt uns nicht wirklich, den Willen zu aufzubringen, das Leben zu verändern. Zum Beispiel hätte die Zeitung Azadiya Welat in dieser Zeit, in der die Muttersprachenforderung dermassen Wellen schlägt, alle Verkaufsrekorde brechen müssen. Aber so ist es nicht. Die Verkaufszahlen sind nicht gestiegen, sondern gefallen. Lesen diejenigen, die die Kampagne durchführen, unterstützen und Gesuche einreichen, die Azadiya Welat regelmässig? Wie sehr füllen wir im Alltag diese Forderungen mit Leben, für die wir kämpfen und Aktionen durchführen? Ist es denn nicht möglich, in jedem Stadtviertel in einer Wohnung einen Sprachkurs zu machen? Könnten nicht die Frauen eine Alphabetisierungskampagne in ihrer Muttersprache beginnen? Kann diese Kampagne nicht das Ziel haben, dass in jedem Stadtviertel mindestens hundert Frauen innerhalb von zwei Monaten lesen und schreiben in ihrer eigenen Sprache lernen? Dafür braucht es keine institutionellen Strukturen. Jeder und jede kann dort, wo er oder sie sich befindet, die Kampagne mit Leben füllen.

Damit wird die Basis des Kampfes für muttersprachlichen Unterricht im Rahmen kultureller Rechte auf politischem und juristischen Gebiet gestärkt. Wir haben mehr Bedarf an kulturellen und sozialen Revolutionen, an einem gesellschaftlichen Wandel, als an einem staatlichen. Die Entwicklung der kurdischen Kultur in diesem Land wird die Einfarbigkeit der herrschenden Kultur vielfältiger machen und uns in Reichtum ertrinken lassen. Keine Verdrehung, keine Brutalität, kein Komplott wird mehr auf den Strassen wachsen und den gesellschaftlichen Wandel verhindern können.

Die Renaissance fand zu einer Zeit statt, in der die Inquisationsgerichte auf Hexenjagd gingen und die Menschen in Massen verbrannt wurde. Auch auf diesen Böden hier ist das so. Unsere Aufgabe dabei ist es, diese Dynamik in unser eigenes Leben zu tragen, uns selbst als Subjekte der Kulturrevolution zu betrachten. Beispielsweise darf die Kampagne nicht auf Aktionen sowie auf juristische und politische Institutionen begrenzt werden. Welchen Schmerz wir durch von oben nach unten durchgeführte kulturelle Eingriffe erlebt haben, liegt auf der Hand. Wenn diese Frage schon offen liegt und wie ein einbetonierter Baum des wirklichen Lebens zu spriessen begonnen hat, dann liegt auch die Lösung bei uns. Lasst uns wachsen, lasst uns aufblühen, uns verschönern, an Farbe gewinnen, reicher werden, damit die Schmerzen ein Ende finden. Was mich betrifft, verspreche ich, dass ich ab sofort statt einer, zwei Azadiya Welat kaufen und eine davon verschenken werde...