Süddeutsche Zeitung, 30.01.2002

Kampf um kulturelle Rechte in der Türkei

Der Aufschrei der Sprachlosen

Im ganzen Land demonstrieren Studenten für Kurdisch-Kurse an den Universitäten - der Staat reagiert mit Ratlosigkeit und Repression

Von Christiane Schlötzer

Istanbul - Von ihrer Festnahme durch die Polizei erzählt die 19-jährige Ruschen, als sei dies nichts besonderes. Etwas schüchtern wirkt die Studentin, aber ängstlich ist sie nicht. "Ich habe heute wieder protestiert", sagt sie. Mehr als hundert Studenten versammeln sich seit Tagen vor dem Rektorat der "Istanbul Universität", einer der größten Hochschulen der Türkei. Sie füllen Petitionen aus, für Kurse in kurdischer Sprache. Ruschen studiert Englisch, aber sie möchte Kurdisch lernen. Die Polizisten drohten ihr mit Universitätsverbot - für ein Jahr.

Ruschens Kollegen in Malatya, im Südosten, haben Schlimmeres zu befürchten. 17 Studenten wurden dort, nachdem sie kurdische Kurse verlangten, dem Staatssicherheitsgericht vorgeführt. Sie blieben in Haft, wegen "Unterstützung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei (PKK)". Wie durch Funkenflug verbreiten sich die Studentenproteste über das Land. Erst flackerten sie im Osten auf, dann erreichten sie Ankara. Der Staat reagiert mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Repression. Innenminister Rüstü Kazim Yücelen spricht von einer "Kampagne zivilen Ungehorsams" und rechtfertigt die Festnahme Hunderter von Studenten. Die meisten wurden rasch wieder freigelassen, einige berichten von Misshandlungen.

Drei Jahre nach der Festnahme von PKK-Chef Abdullah Öcalan behandelt Ankara kulturelle Rechte für die Kurden immer noch als Sicherheitsproblem. Zwar wurde am 1. Januar die Verfassung geändert. Kurdisches Fernsehen wäre nun erlaubt, sofern auch noch das Rundfunkgesetz geändert wird. Dies ist bisher aber nicht geschehen. Gesellschaftlicher Druck und das Drängen der Europäischen Union haben die Verfassungsänderung bewirkt. Schulische Erziehung auf Kurdisch aber erlaubt sie nicht. Wer sie fordert, steht als "Separatist" immer noch mit einem Fuß im Gefängnis.

"Die PKK mag hinter den Aktionen stecken", sagt der Soziologe Dogu Ergil, ein langjähriger Kenner des Kurdenkonflikts. "Es ist aber eine gewaltfreie Aktion." Der Staat habe verlangt, dass die PKK ihre Waffen niederlege, meint Ergil, und nun könne der Staat nicht über seinen Schatten springen und eine politische Betätigung der einstigen Kämpfer akzeptieren. Besonders die rechtsnationalistische MHP blockiert in der Regierungskoalition jeden Wandel im Sprachenstreit. Aber auch von Regierungschef Bülent Ecevit kam bereits ein striktes Nein. Nur die europafreundliche Mutterlandspartei (ANAP) von Vize-Premier Mesut Yilmaz warnte davor, die Studenten "zu hart anzufassen". Sie fürchtet neuen Imageschaden für die Türkei.

Die ANAP denkt aber auch an den nächsten Wahlkampf, denn es gibt eine Organisation, die bei den rund zwölf Millionen Kurden über ein recht sicheres Wählerpotential verfügt: die einzig legale prokurdische Partei Hadep. Zwei Vorläuferparteien wurden verboten, und auch über ein Verbot der Hadep verhandelt am 1. März das Verfassungsgericht. Der Vorwurf: Verbindungen zur PKK. Wie eng die Kontakte der Partei zu den gut organisieren Restkadern der kurdischen Arbeiterpartei sind, ist umstritten.

Der Staat hat in der Vergangenheit einen beachtlichen Teil der kurdischen Elite in die Arme der PKK getrieben. Ihre Rückkehr in die Arme des Staates scheint nicht wirklich gewollt. Hadep-Chef Murat Bozlak betont zwar stets: "Wir sind für die Einheit der Türkei." Dem hält aber regelmäßig ein Regierungsvertreter entgegen, man sehe bei den organisierten Kurden "keinen Willen zur Integration". Die Hadep ist nicht im Parlament, aber sie hätte bei Wahlen gute Chancen, die Zehn-Prozent-Hürde zu überspringen. Die Regierung hat beim Wiederaufbau im Südosten nach 15Kriegsjahren weitgehend versagt, und die derzeitige Wirtschaftskrise hat die Menschen in Bitlis und Bigöl härter getroffen als in Istanbul und Izmir. Auch dies sorgt für den Zulauf zur Hadep, der nun Politiker wie Militärs beunruhigt.

Das Misstrauen aber geht über konservative Kreise hinaus, und es zeigt, dass die Wunden des blutigen Konflikts auch in der Gesellschaft noch nicht vernarbt sind. "Die PKK setzt ihren Kurs der Konfrontation fort", schreibt Ilnur Cevik, Chefredakteur der als liberal geltenden Turkish Daily News, in einer bitteren Kolumne zur Kurdisch-Kampagne, die mit den Worten endet: "Sie wissen nur, wie man tötet und zerstört." Dem hält Enis Berberoglu von der Zeitung Radikal entgegen: Die Türkei sei "sehr talentiert in der Erschaffung von kollektiven Feinden". Kurdische Medien zu erlauben, das Erlernen der Sprache aber zu verbieten, sei doch "absurd", so der Kolumnist. Zumindest "in der Freizeit und mit eigenem Geld" sollte man Kurdisch lernen können, "wie Chinesisch".

Mehmet Sakar hätte kein Geld für einen solchen Kurs. Der 26-Jährige aus Diyarbakir schlägt sich mit kleinen Jobs durch, in Istanbul, wo mittlerweile wohl jeder vierte Kurde aus der Türkei lebt. Auch mancher Polizist in Istanbul spreche besser Kurdisch als Türkisch, erzählt Sakar. Er muss es wissen. Jüngst wurde er "zum 20. Mal" festgenommen. Wer Mitglied der Hadep ist, gerät immer wieder ins Visier der Sicherheitskräfte. Und wie hält es die Hadep selbst mit der Kurdisch-Kampagne? Ihr Parteichef in Istanbul, Dogan Erbas, sagt, seine Partei habe die Petitionen nicht organisiert. Sie sei aber nicht dagegen. "Das macht die Öffentlichkeit aufmerksam."