Basler Zeitung, 28.01.2002

Die Türkei demokratisiert - als Alibiübung

Istanbul. Nachdem das türkische Parlament im Herbst in einem Sitzungsmarathon eine Verfassungsänderung auf den Weg gebracht hat, die dem Land den Weg zu Beitrittsverhandlungen mit der EU öffnen soll, müssen nun die nachfolgenden Gesetze angepasst werden. Zum Beispiel melden Nachrichtenagenturen seit der Verfassungsänderung ebenso beharrlich wie falsch, Radio und Fernsehen in Kurdisch wären nun in der Türkei erlaubt. Auch die Paragraphen, die bisher verwandt wurden, um die Meinungsfreiheit in engen Grenzen zu halten, stehen nicht in der Verfassung, sondern im Strafrecht oder in der Antiterrorgesetzgebung.

Viel Spielraum für Willkür

All dies sollte nun gerichtet werden. Die Änderungspläne bekamen allerdings in der türkischen Presse wegen ihres geringen Umfanges von Anfang an den Beinamen Minidemokratisierungspaket. Nun ist das Paket geöffnet und die Enttäuschung von Anhängern einer Liberalisierung ist gross. Der bekannte Kolumnist Ismet Berkan findet, die Bezeichnung «Mini» sei noch immer angemessen, eine Demokratisierung sei in dem Paket aber nicht vorhanden.

Im Gegenteil werden nun Strafen zum Teil sogar erhöht und neue Straftaten kreiert. Zum Beispiel soll es strafbar werden, die Regierung zu beleidigen oder verächtlich zu machen. Den Gerichten bleibt es überlassen, festzustellen, wann eine Parole auf einer Demonstration oder ein scharfer Kommentar in einer Zeitung dies tut. Der Willkür Tür und Tor öffnet auch, dass in gewissen Fällen die Unterstützung einer Terrororganisation auch dann bestraft werden kann, wenn sie nicht absichtlich erfolgt ist. Startet etwa die PKK eine Kampagne für kurdischen Unterricht, wie zur Zeit behauptet wird, so kann jeder wegen Unterstützung der PKK bestraft werden, der die gleiche Forderung erhebt oder Argumente vorbringt, die geeignet sind, die Kampagne in irgendeiner Weise zu unterstützen.

Todesstrafe gegen Terrorismus

Fehlanzeige gibt es auch bei der Aufhebung der Todesstrafe, die von der EU unbedingt gefordert wird. Wie schon in der Verfassung soll die Verhängung der Todesstrafe auch im Gesetz lediglich auf Kriegszeiten, Zeiten eines drohenden Krieges und auf Terrorismus eingeschränkt werden.

Die Verfassungsänderung und ihre Umsetzung tragen deutlich die Handschrift der rechtslastigen MHP, die einer Ideologie anhängt, in der Begriffe wie Nation, Volk und manchmal Rasse heilig gesprochen werden. So etwas hat den Bürgerrechten noch nie gut getan. Spürbar ist aber auch der Kontext der Welt nach dem 11. September, in der auch die demokratischen Musterschüler selber Bürgerrechte über Bord warfen, weil diese im Handgemenge mit dem Terrorismus angeblich nur hinderlich sind. Jan Keetman