Aargauer Zeitung online (CH), 23.01.2002

Angriff mit Papier und Tinte

In grossen Städten massenhaft Anträge auf kurdischen Sprachunterricht

Thomas Seibert, Ankara

Die türkischen Sicherheitsbehörden glauben, einer neuen Attacke der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegenüberzustehen. Doch diesmal wird der Angriff nicht mit Schnellfeuergewehren in einsamen Bergregionen geführt, sondern mit Papier und Tinte in den Metropolen des Landes. Mehr als 5000 Anträge auf kurdischen Sprachunterricht in Schulen und Universitäten der Türkei sind in den letzten Wochen eingegangen, wie die zentrale Polizeibehörde der Türkei am Montag mitteilte. «Kurdisch-Alarm» titeln die Zeitungen.

Erstmals Schritt auf die PKK zu

Mehr als 200 Antragsteller - Eltern, Schüler und Studenten - wurden bisher festgenommen: Ihnen wird die Beteiligung an einer Propagandaaktion der PKK und damit Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Doch mit reiner Repression ist dem Ruf nach kurdischem Unterricht nicht beizukommen, wie man auch in Ankara weiss. Die Forderung nach Sprachfreiheit für die Kurden ist schliesslich eine der wesentlichen Bedingungen der Europäischen Union für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Der türkische Staat sieht sich daher in einem Dilemma: Einerseits muss er die kurdische Sprache freigeben, wenn er sich die EU-Perspektive erhalten will; andererseits befürchtet er, dass dies die Gesellschaft spalten könnte.

Dieses Dilemma ist es offenbar, das massgebliche Stellen im Staatsapparat bewogen hat, erstmals einen Schritt auf die PKK zuzugehen und einen Dialog zumindest in Aussicht zu stellen. Über ausgewählte Medien lancierten die türkischen Sicherheitskräfte jetzt einen Katalog von Forderungen an die PKK, in dem die Voraussetzungen für eine politische Lösung des Konflikts abgesteckt werden. Wenn die PKK alle Bedingungen erfülle, dann wäre der Staat bereit, sie nicht weiter als separatistisch zu verfolgen und konstruktiv über die Kurdenfrage zu reden, heisst es darin. Damit signalisiert die Türkei erstmals seit Ausbruch der Kämpfe vor fast 18 Jahren die Bereitschaft, den Konflikt anders zu lösen als mit militärischen Mitteln.

Neubewertung des Kurdenproblems?

Das Wort «Kurdistan» müsse aus dem Namen der PKK selbst sowie den Titeln aller PKK-nahen Verbände sowie aus deren Publikationen und den PKK-nahen Medien verschwinden, fordern die türkischen Sicherheitskräfte als Voraussetzung für eine «Neubewertung» des Kurdenproblems. Damit solle die PKK unter Beweis stellen, dass sie sich tatsächlich vom Ziel eines eigenen Kurdenstaates verabschiedet habe. Die Forderung trifft sich mit der Ankündigung von PKK-Interimschef Osman Öcalan, die PKK werde demnächst ihren Namen ändern, um ihren Willen zu einer Einigung mit der Türkei zu bekräftigen.

Vor allem aber verlangen die türkischen Sicherheitskräfte von der PKK den Verzicht auf die Forderung nach getrennten kurdischen Institutionen in der türkischen Gesellschaft. Die Forderung nach kurdischsprachiger Ausbildung ziehe logisch die Forderung nach kurdischem Geschichtsunterricht und in einem weiteren Schritt nach kurdischen Wirtschafts- und Berufsverbänden nach sich, heisst es in dem Papier. Dies würde aber unweigerlich zu einer Auflösung aller Vereinigungen und Institutionen in der Türkei und einem Zerfall der türkischen Gesellschaft führen. Angesichts dieser Befürchtungen im türkischen Staatsapparat ist es kein Wunder, dass Ankara auf die aus europäischer Sicht eher harmlos wirkenden Anträge auf kurdischen Sprachunterricht äusserst allergisch reagiert.